Die emsige Pionierin

16.01.2023 | Timo Züst
Gedenkfeier_Rosmarie_Nüesch (5)
Am Samstag wurde im Zeughaus Rosmarie Nüesch-Gautschi gedacht. Fotos: tiz

Es war der Wunsch von Rosmarie Nüesch-Gautschi (24.12.1928 bis 4.10.2022) gewesen: Eine Gedenkfeier in gemütlichem Rahmen. Das sagte ihr ältester Sohn Klauspeter Nüesch am Samstagnachmittag im Zeughaussaal zur Begrüssung. Die geladenen Gäste hatten sich hier eingefunden, um der einzigartigen Frau zu gedenken, die Teufen und den Kanton Ausserrhoden so sehr geprägt hat. Am Rednerpult erinnerten sich Hans Höhener und Ueli Vogt an Rosmarie Nüesch. Hier lesen Sie ihre Reden:

Rede von Hans Höhener


«Rosmarie Nüesch-Gautschi hat von ihren Grubenmännern viel gelernt. Aber sie hat das Erlernte nicht bewahrt, es sich nicht selbstsüchtig zunutze gemacht. Sie hat daraus gemacht, was alle begabten, begnadeten, intelligenten und leidenschaftlichen Menschen tun: Sie hat es erhalten und gestaltet. Es ist nicht nur ein bauliches Erbe, es ist ein geistiges Erbe, das sie mit ihrem Wirken für die Grubenmanns und für die Tradition im Allgemeinen unserer Gesellschaft, unserer Kultur, unserer Zukunft vermacht hat: ein kollektives Gedächtnis!»

(Astrid Stauffer, Architektin / Professorin für Architektur und Konstruktion an der TU Wien, in der Laudatio zum Ausserrhoder Kulturpreis 2013)

Wie oft habe ich doch in den letzten Monaten, vielleicht Jahren, vor ihrem Tod gehört: «Jo, ond au d Rosmarie ischt do gsee. Si het fascht nomme möge laufe. Aber si ischt cho! Si het sech interessiert ond het au no ehren Kommentar abgee. Aber e chli altersmilder isch si worde!»

«Dörehebe, draa bliibe! Denn chont me scho as Ziel!» Das hat sie mir, dem jungen Regierungsrat – und formell ihrem Chef – in den 80er Jahren oft gesagt! Sie war damals ehrenamtliche Denkmalpflegerin mit einer etwas grosszügigeren Spesenentschädigung in unserem Kanton. Heute würde kein Mensch diese, in der Öffentlichkeit nicht immer nur mit Applaus bedachte Aufgabe für diesen Lohn übernehmen. Aber Rosmarie hat es getan, mit Leidenschaft für die Sache und erst noch in einer geradezu einmalig hohen Qualität. 1991 wurden dann die gesetzlichen Grundlagen für die Denkmalpflege – und damit für ihre entsprechend entschädigte Nachfolge geschaffen.

Es war unglaublich, was Rosmarie Nüesch in jenen Jahren geleistet und bewirkt hat. Sie war gleichzeitig auch Obmann – wohlverstanden auf ihren Wunsch nicht Obfrau, nicht Präsidentin! – des Ausserrhoder Heimatschutzes. Mit Begeisterung hat sie sich dafür eingesetzt, Hausbesitzer motiviert, Skeptiker überzeugt. Sie hat erklärt, aufgezeigt und bewusst gemacht. Natürlich wurde auch ich durch sie Mitglied des Heimatschutzes. Der Ausserrhoder Heimatschutz war damals auf die Bevölkerung bezogen, die mit Abstand grösste Kantonalsektion in der Schweiz. Und als es darum ging, Denkmalpflegekommission und Regierungsrat zu überzeugen, jährlich mit einigen zehntausend Franken die Schindelkasse zu äufnen, um damit mit wenig Geld viel Goodwill zu bewirken, hat sie uns zum Nordhang der Hundwiler Höhe geführt und uns einen über 300-jährigen «nördige, ohsinnig schö vewetterete  Schendleschirm» an einem Bauernhaus gezeigt. Eine halbe Stunde später standen wir vor einem Haus mit einem 40-jährigen, strassenseitig «vewitterete», so richtig «grüsige» Eternitschirm. Das Motto des damalige Ausserrhoder Baudirektors Hansjakob Niederer «Me moss halt selber anestoh, luege ond mitenand schwätze» war wie zugeschnitten auf Rosmarie und hat letztlich auch in der Schutzzonenplanung in relativ kurzer Zeit konstruktive Lösungen gebracht. «Jo, de Hansjakob Niederer, gradlinig ond au mit Kante, ischt e so näbis wie n en «Fan» vo de Rosmarie gsee.»

Rosmarie war immer für unbürokratische, gute Lösungen zu haben. Als das innerrhodische Kloster Wonnenstein vor rund 30 Jahren die Klostermauern sanieren wollte, aber vom Kanton Appenzell Innerrhoden keine Denkmalpflegebeiträge gesprochen werden konnten, wandte sich die damalige «Frau Mutter» an Rosmarie Nüesch. Wir entschieden in der Folge in der Ausserrhoder Denkmalpflegekommission aus einem Fonds für nicht gesetzlich definierte Fälle, über den wir frei verfügen konnten, einen Beitrag zu leisten, zumal die Klostermauern ja nach aussen Ausserrhoder bzw. Teufner Boden tangierten. Nachdem die Gemeinde Teufen den gleichen Beitrag aus freien Stücken auch sprach, konnte der Anteil des Bundes ausgelöst werden.

Näher kennengelernt habe ich Rosmarie Nüesch in den 70er Jahren im Vorstand der FDP Teufen, deren Präsidentin sie 1978 wurde. Es war eine Zeit, wo wir oft stundenlang über Sinn und Zweck des Liberalismus, einer lebendigen und föderalistisch strukturierten Demokratie diskutiert haben. Wir waren überzeugt, dass es in einer solidarisch funktionierenden Gemeinschaft ein einigermassen vernünftiges Gleichgewicht des gegenseitigen Nehmens und Gebens – wenn die Voraussetzungen da sind, gar einen etwas grösseren Anteil des Gebens – braucht. Rosmarie Nüesch hat das bis zuletzt in all ihren Aufgaben, Mandaten und Funktionen gelebt.

Astrid Stauffer hat sie damals bei der Verleihung des Kulturpreises aufgelistet: Rosmarie Nüesch war «Architektin, Denkmalpflegerin, Heimatschützerin, Politikerin, Hausfrau, Mutter, Grossmutter, Stiftungsrätin, Verwaltungsrätin, Museumsdirektorin, Geschichtenerzählerin, Historikerin, Wissenschaftlerin, Autorin, Ausstellungsmacherin, Zeichnerin, Finanzexpertin, Konsulentin, Archivarin, Kulturphilosophin, Tragwerk-expertin, Trachtenförderin, Frauenrechtlerin, Redaktionsmitglied, Kunstsammlerin, Baufachfrau… und ja, bei alledem: Frau Pionierin.»

Zwei Monate nach der Einführung des kantonalen Frauenstimmrechtes im Jahr 1989 wurde sie zusammen mit Elisabeth Kunz, Herisau, erstgewählte Kantonsrätin in Appenzell Ausserrhoden. Wenige Jahre später hatte Ausserrhoden einen der grössten Frauenanteile in der Schweiz. Rosmarie Nüesch hat mit ihrer pragmatisch engagierten Arbeit entscheidend dazu beigetragen. Führungen mit ihr waren stets ein Erlebnis. Sie konnten manchmal zwar recht lange dauern, doch ihr fundiertes Wissen, ihre Detailkenntnisse vermochten zu begeistern. Ruth Dreifuss, die 1999 als Bundespräsidentin die Olma eröffnete und einen Tag zuvor bei einem Kurzbesuch in Teufen spontan das Grubenmann-Museum besuchte, hat mir Monate später noch gesagt, wie Rosmarie Nüesch sie beeindruckt habe.

Beeindruckt hat Rosmarie Nüesch nicht nur durch ihre hohe fachliche Kompetenz, durch ihre Fähigkeit zu motivieren und zu begeistern, sondern auch durch ihre enorme Schaffenskraft. Ich erinnere an die Aufzählung von vorher. Ja, es waren viele Aufträge, Aufträge «ihrer» Institutionen, der öffentlichen Hand oder eben auch diejenigen, die sie sich selbst gegeben hat – viele Aufgaben, die sie oft gleichzeitig und parallel ausgeführt hat. Eine solche «Kombination» mag beispielhaft für verschiedene andere stehen.

In der Zeit als sie Obmann des Heimatschutzes und im Teilzeitmandat Denkmalpflegerin war, war sie auch Beauftragte für die Pläne und Zeichnungen für die drei Ausserrhoder Kunstdenkmälerbände von Eugen Steinmann. Sie war ständig unterwegs, sie besuchte, sie verhandelte, sie suchte Lösungen. Sie war – zum Glück – keine trockene Beamtin. Sie zeigte Emotionen, sie konnte sich aufregen – zum Beispiel bei der Überbauung im Thürer-Park (ich z.B., sah es anders) –, doch sie liess mit sich diskutieren. Man kannte sie, Rosmarie Nüesch war ein Begriff. Sie war als Denkmalpflegerin, als Obmann des Heimatschutzes stets unter den Leuten und hat in den 80er und 90er Jahren viel, ja, wohl entscheidend zum wachsenden Verständnis für Heimatschutz und Denkmalpflege, für eine gute Umsetzung von Orts- und auch Schutzzonenplanungen beigetragen. Es versteht sich von selbst, dass man auf regionaler und eidgenössischer Ebene – sie war auch eidgenössische Denkmalpflegerin, Mitglied der Eidg. Natur- und Heimatschutzkommission, Mitglied der Eidg. Kommission für Denkmalpflege – auf sie aufmerksam wurde, sie, selbst über die Landesgrenzen hinaus, zu Referaten und Gastvorlesungen einlud.

Nicht viel erzählt hat Rosmarie Nüesch – von sich aus – über ihre Familie. Doch auf sie angesprochen hat sie stets mit viel Freude und Stolz über euch, Klauspeter, Christian, Barbara und euere Familien mit den Grosskindern berichtet. Beim letzten Besuch bei ihr zu Hause hat sie mir erzählt, wo ihr geschlafen habt, was ihr für sie bedeutet und welche Rolle das Haus an der Steinwichslenstrasse als Wohn- und Begegnungsort spiele. Ihr wart für sie nicht nur Familie, ihr wart für sie – bei all den geographischen Distanzen zu und unter euch – ein wichtiges Stück Heimat!

«Jo, Rosmarie, es gäb no mengs z vezellid. Vor öber 60 Johr bischt du, d Rhientleri, bis zletscht stolz of dini Herkunft ond of d Familie Gautschi,  zo ös off Tüüfe cho. Wa wär Osserrhode ohni di? Du hescht gstaltet, Sorg ghäbet, öpe näbertem – nei villne – d’Auge n uuftue. Du hescht krampfet, hescht gschwätzt, bischt anegstande, zo de Lüüt gange, hescht di iigsetzt för d Sach, erklärt, gueti Kompromiss gsuecht, kämpft för ös! Du bischt draa blebe, du hescht döre ghäbet, hescht, wenn s het möse see, nüd logg loo – ond glich all Lösige gfonde. Ond i sieh s no, dis veschmitzt Lächle, s zfrede Schmunzle, wenn näbis grote n ischt. Du bischt en Tääl vo ös, vom Appezellerland worde.»

Jo, es stimmt, was de Zörcher Geograf Emil Egli emol gsäät het:

«Der Mensch nimmt von der Landschaft Besitz, aber die Landschaft nimmt auch vom Menschen Besitz.

Der Mensch gestaltet die Landschaft von aussen, die Landschaft aber gestaltet den Menschen von innen. Durch diese gegenseitige Beziehung entsteht Heimat: Der Mensch wird Teil seiner Landschaft.»

«Danke, Rosmarie, för alls! Du bischt e grossartige, jo e geniali Frau gsee! I wör säge: en Glücksfall för Tüüfe, en Glücksfall för öseren Kanton – jo, wiit dröber uus! Dis Schaffe bliibt, bliibt do för ös, i ös, ond goht wiiter! Säg vill Mol Dank!»

Rede von Ueli Vogt


Wann begegnete ich eigentlich Rosmarie zum ersten Mal?

Das ist schwer zu sagen. Es gibt sicherlich unbewusste Begegnungen, aus Publikationen, vielleicht aber auch von schwärmenden Gesprächen von befreundeten Architektinnen und Architekten. Es ist anzunehmen, dass die Wahrnehmung von Rosmarie mit der Baumeisterfamilie Grubenmann zusammenfällt.

Da ich erst um die Jahrtausendwende herum Architektur studiert habe, diskutierten wir damals in Winterthur eher um die Zuneigung zu Rem Koolhaas oder Herzog de Meuron. Fast anlog wie in der Jugend, als es um die Zugehörigkeit zum Lager der Beatles- und Stones-Fans ging. Das Interesse an barocken Provinzerscheinungen wäre mir vorgekommen, um in der Stones-Beatles-Analogie zu bleiben, wie wenn man für Ländlermusik gefant hätte

Doch es gab eine Wendung: Als Angestellter im renommierten und für Holzbauten bekannten Architekturbüro Staufer & Hasler legte man Wert auf solches Wissen und so wurde im Herbst 2009 darüber gesprochen, die Fachtagung zu besuchen, die anlässlich Hans Ulrich Grubenmanns 300. Geburtstag in Teufen organisiert wurde. «Ah, du kennst Grubenmann nicht?» «Doch, doch, schon gehört …»

Und so pilgerte ein Grüppchen am 4. September 2009 nach Teufen. Leicht irritiert war ich, dass diese Tagung in einer Kirche stattfand, in der Grubenmann-Kirche halt. Dass sich mein Verhältnis dazu und überhaupt zu Grubenmann einmal grundlegend verändern würde, ahnte ich damals noch nicht.

Zwischen all den anwesenden Fachmännern wieselte eine kleine Frau umher, begrüsste und führte ein. In der Erinnerung steht sie auf der Kanzel und referiert über ihre Baumeister. Aber ziemlich sicher stand ein Rednerpult im Chor neben der Leinwand. Es war sofort klar, dass diese damals 71-jährige Frau die Chefin ist. Sie gab hier und dort kleine Anweisungen, versteckte sich nicht und half bei den Übergängen der Referenten. Alles hochkarätige Fachleute, auch solche, die ich erst im Nachhinein als solche erkannte. Für mich prägend war der Vortrag von Jürg Conzett, der es vermisste, dass niemand die architektonischen Qualitäten der Baumeister untersucht und bewerte. Eine Idee, die mich bis jetzt antreibt und den Grubenmännern verbunden bleiben lässt. Am Ende der Veranstaltung ging ich, so glaube ich zumindest, nach vorne und beobachtete die stolze und gutgekleidete Fachfrau. Aber ob ich sie angesprochen habe, weiss ich nicht mehr genau. Zumindest erwarb ich ihre Publikation.

Die erste persönlich Begegnung mit Rosmarie fand beim ersten Bewerbungsgespräch fürs Zeughaus statt. Das war gut drei Jahre später, im Herbst 2011. Dort sass die Auswahlkommission, aufgereiht hinter einem Tisch, verwickelte den Bewerber in ein Gespräch über Motivation, Qualitäten und Ideen. Rosmarie blieb in meiner Erinnerung eher still. Trotzdem war klar, wer die Chefin im Raum ist.

Sie hielt mir plötzlich ein Blatt mit einer gezeichneten Dachkonstruktion hin und meinte, ich solle doch mal die Balken und Konstruktionsdetails benennen. Diese Situation war eher komisch und peinlich, denn diese Nomenklatur als Nicht-Zimmermann zu kennen, ist nicht selbstverständlich. Vielleicht könnte die von mir dann eingeschlagene Taktik im Nachhinein eine Art Startschuss für unsere spätere Zusammenarbeit gewesen sein. Ich erklärte nämlich, mit so viel Charme wie möglich, vermutlich ganz scheu auch andeutend, dass ich das nicht so wichtig finde, dass es mir nicht möglich sei, diese Begriffe zu kennen. Damit gab ich zu verstehen, dass man die Bedeutung der Frage anders einschätzen, jedoch aus anderer Sichtweise absolut berechtigt und möglich finden kann.

Nur so nebenbei: Fürs 2. Bewerbungsgespräch versuchte ich doch noch etwas Wissen zu erlangen, griff wohl zum 2009 in der Kirche gekauften Broschüre. Aber ich wäre dafür fast nach Trogen gefahren, auf der Suche nach «einer Gemeinde im Appenzellerland mit T».

Nach meiner erfolgten Wahl stürzten sich Rosmarie und ich uns schnell ins Abenteuer, denn es galt in der grossen Baustelle des Zeughauses innert eines halben Jahres die bestehende Ausstellung komplett neu zu gestalten, zu entwickeln und auch einzubauen. Als Glücksfall erwies sich, dass Thomas Karrer im Begriff war, einen Film über Rosmarie zu drehen. So reisten wir zu wichtigen Grubenmann-Bauten, unter anderen zur Kubelbrücke, nach Wädenswil und Trogen.

Ihre Knie liessen schon zu wünschen übrig, trotzdem erklommen wir noch gemeinsam den Dachboden der Trogener Kirche. Dort zeigte sich unsere ähnliche Art des Vorgehens, auch wenn der Fokus auf Unterschiedlichem lag. Ich zeigte ihr mögliche Halterungen für das dem Vernehmen nach dort eingelagerte Getreide, was sie sofort freudig in ihre Erzählung zur Kirche Trogen aufnahm. Mit dem Verweis, dass der von ihr ausgewählte Nachfolger eine gute Beobachtungsgabe habe. Und so zitierten wir uns künftig häufig.

Folglich erkundeten wir viele Situationen, machten da und dort einen Stopp. Sie schickte mich los, ich erklomm Dächer und Konstruktionen und berichtete ihr dann, respektive bestätigte sie, indem, was sie mir vorher prophezeite. Vielleicht wenig passend, aber auch eine schöne zur Fahrgemeinschaft passende Episode, die ihrer schnellen Verdauung geschuldet ist: Wenn wir in der Nähe des Ziels ankamen, also in Bischofszell, in Oberbühren etc. stieg ich schon mal aus und suchte nach einer öffentlichen Toilette, während dem sie einen Parkplatz suchte. So habe ich auch in diesem Bereich gute Ortskenntnisse erlangt.

Wie wohnt denn diese so historisch bewanderte Frau?

Nach einer ersten Einladung, die schon bald nach Stellanatritt erfolgte, machte ich mir Vorstellungen. Ich dachte eher an ein historisches, gut erhaltenes Haus, vermutlich aus Holz, vielleicht aber auch barockisierend. Die Details könnten kitschig wirken, aber alles wäre sicher einwandfrei nach denkmalpflegerischen Kriterien erhalten – ein Gesamtkunswerk.

Ich weiss nicht mehr genau, wie ich zum ersten Mal dorthin gelangte. Wohl zu Fuss mit dem Handy-Navi. Vermutlich glaubte ich es kaum, dass jetzt das hier das Haus von der Denkmalpflegerin, Heimatschützerin Rosmarie sein soll. Mutmasslich ging ich zuerst vorbei, merkte aber schon bald, dass die ganze Steinwichslenstrasse ähnlich bebaut ist und gut auch irgendwo in einer anderen Agglomeration stehen könnte.

Jedoch war schnell zu sehen, dass dieses Haus mit sicherer Hand gestaltet ist. Ich besuche ja auch eine Architektin, eine Pionierin dieser Zunft dazu.

Die schöne und vor allem praktische Eingangssituation, grob verputzt, mit der grossen Föhre davor (welch Sauerei macht, Schönheit bedingt Leiden) und dem Gebäudevolumen, das wunderbar der schwierigen Topografie angepasst scheint. Dieses Haus ist ihrer Baumeisterfamilien-Herkunft geschuldet, denn es ist ein modern konstruiertes murales Bauwerk, unverkennbar aus den 70er Jahren, aber fein gestaltet. Sie war ob meinem Staunen sichtlich und schelmisch stolz.

Im Eingangsgeschoss ist ein grosser offener und beinahe öffentlicher Raum angeordnet, da wird gearbeitet, gegessen und am Feuer gesessen. Die Küche ist klein und zweckmässig und hat eines meiner liebsten Details: Ein kleines Sims unter den hochliegenden Bandfenstern über der Arbeitsfläche und darin ein kleiner langgezogener Radiator. Auf diesem Sims lassen sich direkt über der Arbeitsfläche Dinge ablegen und trocknen. Rosmarie staunte, dass mir das so gefiel, erzählte es aber künftig allen stolz so weiter.

Auf diesem Geschoss ist trockenen Fusses die Garage zu erreichen und daneben befinden sich die privatesten Räume der Hausherrin. Sie erinnern an eine kleine Hotelsuite; ein Schlafzimmer mit Zugang zur Terrasse, ein innliegendes Bad mit separatem Balkon, vielleicht eine Hommage an die schöne Lebensreformvorstellung, dass Baden nicht nur mit physischer Hygiene zu tun hat, sondern auch mit Wohlbefinden. Man kann also direkt aus der Badewanne auf den Balkon treten und sich im Angesicht des Säntis von der Sonne trocknen lassen… Ob sie das gemacht hat, ist nicht überliefert.

Mittels einer grossen skulpturalen Treppe gelangt man ins Untergeschoss, das dank geschickter Nutzung der abschüssigen Togografie mit viel Tageslicht und direktem Gartenzugang ausgestattet ist. Die zentrale grosszügige Gangzone, die auch viel Platz zum Verweilen und Spielen lässt, ist über das Treppenauge mit der erdgeschossigen Kommandozentarale verbunden, was wohl kein Zufall ist.

Hier unten sind die Räume den Kindern zugeschrieben: ein Zimmer mit inliegendem Bad, für die Tochter, auf der anderen Seite zwei Zimmer mit Bad, das die beiden Buben beherbergt.

Dieses Haus hat Rosmarie für sich und ihre drei Kinder in den frühen 1970er Jahren entworfen und erbauen lassen. Es ist in meinen Augen so etwas wie ein steingewordenes Familiendiagramm.

Wann immer sie auf ihre Entwurfs-Tätigkeit angesprochen wurde, hat sie leicht verlegen geantwortet. Zum einen schmeichelte ihr Lob (wem tut Lob nicht gut?), zum andern betonte sie dann jeweils auch, dass sie eben das Architekturstudium nicht abgeschlossen habe. Ihr kam die Liebe dazwischen …

Dieser Umstand des fehlenden Diploms war sicher einer ihrer Antriebsmotoren, sich mit der ihr zugefallenen Baumeisterfamilie so intensiv zu befassen. Sie kokettierte auch etwas damit. Aber dieser Umstand verband sie auch mit «ihren Grubenmännern», wie sie jeweils diese liebevoll nannte.

Denen wird ja nachgesagt, dass sie kaum eine Ausbildung im herkömmlichen Sinn hatten (sofern es das in dieser Zeit überhaupt gab), geschweige denn ein Studium. Sinngemäss wurde das auch an die Wand des Grubenmann-Museums geschrieben, als Zitat des Schaffhauser Stadtbaumeisters Jezler von 1780: «Sie haben ihr Handwerk von selbst gelernt und können deswegen in ihrer Art Original-Genies heissen.»

Darin drückt sich der Stolz aus, etwas erreicht zu haben, ohne den klassischen Weg begangen zu haben, zum Beispiel, ohne akademische Würdigung grossartige bewundernswerte Bauwerke zu bauen.

Auf Rosmarie übertragen könnte das heissen: Auch ohne akademischen Abschluss, eines Tages dem Regierungsrat einzuflüstern, was zu machen und sagen sei, oder auch dereinst mal mit Bundesrat Egli am Tisch zu sitzen und über den Umgang mit Baudenkmälern der höchsten Güte zu diskutieren.

Ich hörte sie nie das Wort «dilettantisch» aussprechen. Bevor ich nun dazu anhebe, Rosmarie so zu bezeichnen, versuch ich noch den Begriff zu klären, respektive aus dem schlechten Töpfchen zu nehmen: Dilettant:innen bezeichnet die nicht geschulten Kunstschaffenden und Kunstliebhabenden und wurde ursprünglich im 18. Jahrhundert verwendet, um die Tätigkeit von Kennern und Liebhabern von derjenigen der Adligen abzugrenzen. Also eine Differenzierung von denen, die es nicht nötig haben, und von denen, die die jeweilige Tätigkeit zur Bestreitung des Lebensunterhalts ausüben mussten.

Dass sie als alleinerziehende Mutter ohne akademischen Abschluss aus Leidenschaft die höchsten Würdigungen erhielt, darauf war sie folglich zurecht stolz.

Sie war auch umgekehrt über ihre «gelungenen» Kinder (so bezeichnete sie die drei) stolz – die sie trotz ihrer grossen Emsigkeit hervorgebracht hatte. Auch wenn sie das vielleicht nicht immer durchblicken liess.

Dieser Dilettantismus war es auch, der uns verbunden hat.

Was uns aber unterschied, war die Ausrichtung unserer Leidenschaften.

Bei Rosmarie ging es immer ums Wissen; welche Jahreszahl, welcher Mensch, wiederum versehen mit vielen Zahlen, hatte etwas unterschrieben, unternommen und konstruiert, alles versehen mit Daten. Diese Form des Wissens war ihr wichtig, gab ihr Halt und Sicherheit, machte sie zur Wissenden, zu Frau Grubenmann.

Es ist beeindruckend, wenn jemand alle diese Zahlen und Namen scheinbar fehlerfrei aufzählen kann. In der Laudatio anlässlich der Verleihung des Kulturpreises des Kantons Appenzell Ausserrhoden im März 2013 sagte die Architektin Astrid Staufer: «Wenn Rosmarie etwas sagt, so hat sie immer recht.»

Auch das kannte ich zu gut. Wenn ich mich bemühte, dem nachzueifern, erntete ich meist nur Spott. Wobei ich dieses Risiko teilweise auch bewusst einging, um unsere Unterschiede klar erkennbar zu machen.

Ich versuchte, die Bauwerke zu verstehen. Wie sind die zusammengesetzt, welcher Ausdruck ergibt sich dadurch, was könnte es bedeuten? Welche architektonischen Qualitäten haben die Konstruktionen? Also genau das, was Conzett einige Jahre früher gepredigt hatte.

Wir beide verfolgten aber grundsätzlich eine ähnliche Strategie. Sie besteht darin, dass wir die eigene Herangehensweise unbedingt für wichtig erachten, die zu unserer Leidenschaft machen, uns gelegentlich sogar richtiggehend hineinsteigern. Die Strategie des oder der anderen erachten wir auch als möglich, wollen es aber dann doch «nicht so genau wissen». Es ist und bleibt bloss eine «Möglichkeit». Eine Haltung, die in anderen Zusammenhängen Agnostikern zu eigen ist.

Uns verband vielleicht so etwas wie ein dilettantischer Agnostizismus.

Weiter verband uns das Gärtnern, ein Beruf, den ich mal erlernt habe. Bei Rosmarie war dies eine eigentliche Herzensangelegenheit, die sie lebenslänglich verfolgte. Sie jätete noch mit dem Krückstock – und erntete grosse Zucchetti.

Um meine fachliche Kompetenz zu testen, sagte sie mir in der frühen Phase der Zusammenarbeit, ich könne doch als gelernter Gärtner ihren Birnbaum schneiden. Ich deute diesen Auftrag in einer Mischung aus Pragmatismus «der kann ja das und kann auch gleich zeigen, ob er es wirklich kann» aber auch als eine Art Test.

Ich schnitt diesen Baum, war dabei angemessen nervös, bin aber ein leidenschaftlicher und selbstsicherer Baumschneider und packte diese Aufgabe wie gewohnt streng aber gerecht an. Das Quäntchen Glück, das es im Umgang mit der Natur braucht, war mir hold, und im kommenden Herbst war ein gutes und üppiges Obstjahr. Ich schrieb das eher der Witterung zu, Rosmarie hingegen meiner Arbeit. Das half mir sicherlich wesentlich dabei, von ihr ein bisschen ernster genommen zu werden.

Viele ihrer Fragen, die meist eher Auftrag waren, waren eigentlich Testsituationen. Sie wollte wissen, wer denn was weiss und kann.

Dilettantische Herangehensweisen benötigen auch eine grosse Portion an Unerschrockenheit – auch das dürfte Rosmarie zu eigen gewesen sein.

Noch eine kleine Episode: Rosmaries Mobilität hing ganz fest von ihrem Auto ab. Zum einen hatte das mit der Wohnsituation zu tun, also der praktischen Einrichtung des Hauses von der wir sprachen, aber auch der schönen Lage, die aber etwas abgelegen ist, um ohne Auto auszukommen. Zum andern mit ihren schwächelnden Knien, die es ihr schwer machten sich zu Fuss fortzubewegen. Sie klagte gelegentlich darüber, dass ihre Augen etwas nachlassen. So boten wir ihr an, sie möge doch sagen, wenn wir sie abholen, respektive sie auch mit ihrem Auto fahren sollen. Scheinbar traute sie mir das dann zu, respektive wollte mich auch in diesem Bereich testen: Ich durfte mit ihrem Auto fahren, sie nebenan, viele Tipps gebend. Am Ziel angekommen, sagte sie: «Ich fahr immer no besser als du.» Das wars dann, seither waren wir wieder das gewohnte Team, sie am Steuer, ich auf dem Beifahrersitz.

Bei meinem letzten Besuch bei ihr im Gremm sass sie am Tisch und löste Kreuzworträtsel. Sie klagte über die Mühsal, wenn schnaufen schwerfällt und darüber, dass der Garten so weit weg ist.

Dazwischen auch mal wieder ganz wach, sagte sie, wo noch was zu übersetzen sei und welche Dias noch genau durchgesehen werden sollen und dass doch noch ein Grubenmann-Buch fällig sei.

Ich fragte sie, ob sie denn Angst hätte, vor dem wohl nicht mehr allzu fernen Tod. Erst sagte sie, ganz eindeutig und klar: NEIN. Aber setzte dann zu einer kleinen Ellipse an: Sie wisse ja nicht, ob es ein Jenseits gebe, ob es überhaupt einen Gott gäbe, vielleicht gäbe es ja schon eine Macht, aber sie sei sehr unsicher. Dabei lächelte sie, hatte vielleicht fast ein bisschen Angst in dieser Situation solche Zweifel zu haben. Vermutlich war es wohl eher Freude, dass sie es wagt, so etwas zu äussern. Auch wenn da vielleicht dann etwas und jemand wäre, dass vielleicht dann ihr Zweifeln als lästernd empfinden könnte …

Das ist doch wunderbar tröstend: Angesichts all dieser Zweifel, ob dem was kommen mag, angstfrei zu sein.

Waches eigenes Denken ist unersetzlich. Das hat uns Rosmarie vorgelebt.

Mit derselben Technik wage ich den Versuch, dem Ganzen, ihrer Art, ihrem Wesen, einen Namen zu geben: Rosmarie war eine dilettantische oder vielleicht weniger erklärungsbedürftig, eine leidenschaftliche Agnostikerin und war zurecht stolz darauf.

Und ich bin glücklich, dass es uns gelungen ist, uns auf Augenhöhe zu treffen.

 

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