








Der Himmel ist gegen halb Acht bereits tiefblau an diesem Herbstabend. Hinter den rot-weissen Gardinen der Hechtremise brennt Licht. Und drinnen ist es wohlig warm. Um die Stehtische haben sich einige Gäste zu einem Apéro versammelt. Als die nahe gelegene Grubenmannkirche zweimal schlägt, betritt Daniel Ehrenzeller als Erster die Bühne. Er begrüsst das Publikum, welches er humorvoll als «erlesene Gesellschaft» bezeichnet, herzlich. Rund 25 Personen sind gekommen, um der Goethe-Lesung zu lauschen. Und die ist in dieser Form eine Uraufführung. «Da sind die Leute immer noch etwas skeptisch», sagt Daniel Ehrenzeller. «Weil sie nicht wissen, was sie erwartet.»
Iphigenie will nicht heiraten
Bevor das Stück losgeht, richtet auch Schauspieler und Regisseur des Stücks Hans-Peter Ulli einige Worte ans Publikum. «Die Lesung ist ein Versuch der Verdichtung auf die beiden Protagonisten», sagt er. Als dritte Figur tritt Lea Bischof aus Speicher auf. Sie spielt die junge Iphigenie und soll Ausdruck «der Reinheit der Seele» sein. Das Ende des 18. Jahrhunderts von Johann Wolfgang von Goethe verfasste Schauspiel «Iphigenie auf Tauris» bezeichnet Hans-Peter Ulli als gewissermassen zeitlosen Stoff. Im Zentrum dessen steht Iphigenie. Sie lebt als Priesterin auf der Insel Tauris und geniesst dort Ansehen. Allerdings ist Tauris nicht Iphigenies Wahlheimat, sondern vielmehr ein Exil. Die Göttin Diana entführte Iphigenie und brachte sie auf Tauris, damit diese dem Tod entkommt. König Thaos wirbt um Iphigenie und möchte sie gerne zur Frau nehmen. Sie zieht es jedoch zurück in die Heimat und zu ihrer Familie. Diesen Zielkonflikt werden die beiden Schauspieler während der kommenden Stunde austragen.
Schöne Worte und bezaubernder Gesang
Judith Niethammer als Iphigenie beginnt den Dialog mit einer Abhandlung über ihr Dasein als Frau. Und, so viel ist klar: Zufrieden ist sie damit nicht. «Ich bin so frei geboren wie ein Mann», sagt sie im Laufe des Abends und bringt damit auf den Punkt, wie sehr sie im Spannungsfeld zwischen Pflichten, Loyalität, Schuld und eigener Hoffnung und Bestreben gefangen ist. Thoas hingegen, gespielt von Hans-Peter Ulli, hat andere Pläne. Er träumt davon, Iphigenie «als Braut in seine Wohnung einzuführen» und hält sie wiederholt dazu an, ihren Pflichten nachzukommen. Das Wortgefecht zwischen den beiden ist mal energisch, mal sehnsüchtig. Die Sprache Goethes fordert das Publikum mit teilweise ungewohntem Satzbau. Das lyrisch anmutende Wortgefecht hält aber durchaus auch sehr prägnante Stellen und bereit und solche, die einen im Publikum schmunzeln lassen. Lea Bischof singt drei Lieder ohne jegliche Begleitung und füllt die Hechtremise mit ihrer klaren, wunderschönen Stimme.
Dank für die Ruhe
Thoas lässt Iphigenie am Ende gehen. Die beiden verabschieden sich mit einem «leb’ wohl». Den Anwesenden scheint es nicht schwer gefallen zu sein, sich auf etwas Unbekanntes einzulassen. Im Gegenteil: Hans-Peter Ulli bedankt sich nach dem Applaus herzlich für die gespürte Energie in Form von absoluter Stille im Raum während der einstündigen Lesung. «Und danke nochmals an Lea», fügt er an und lacht. «Dich ins Boot zu holen wahr wohl meine allerbeste Idee.»
Hinweis: Das Stück wird morgen Sonntag um 17 Uhr nochmals aufgeführt in der Hechtremise. Hier geht’s zum Flyer. Tickets gibt es an der Abendkasse.