Zwischen Teufen, Den Haag und Uganda

13.09.2024 | Timo Züst

Laut Google sind es 11'661 Kilometer von Washington D.C. in den USA bis nach Kampala in Uganda. Gian Clavadetscher aus Niederteufen hat diesen Weg aber nicht direkt zurückgelegt. Dieser führte über Den Haag und seinen dortigen Arbeitgeber, den Internationalen Strafgerichtshof. Dahin wechselte Gian Clavadetscher nach 6 Monaten bei der Schweizer Botschaft in Washington. Während jener Zeit traf er einen anderen jungen Teufner in der amerikanischen Hauptstadt. Die beiden erzählten der TP damals, wie es zu diesem Treffen in der Ferne kam. Ein gutes Jahr später telefoniert die TP wieder mit dem 27-jährigen Gian Clavadetscher. Dieses Mal geht es um schreckliche Verbrechen in Afrika, das globale Ungleichgewicht und eine mögliche Rückkehr in die Schweiz.

Hinweis: Hier finden Sie den Beitrag über das Gian Clavadetscher und Nikolai Orgland in New York.

Hi Gian, danke für die Geduld. Sorry, ich bin nicht so gut mit dieser Internet-Telefonie. Hörst du mich?

Ich höre dich gut. Hoffe, es ist nicht zu laut. Sitze eben grad in einem Café.

Wo bist du denn?

Am Flughafen Istanbul. Ich habe hier einen Zwischenstopp. In zwei Stunden fliege ich weiter in Richtung Europa.

Wohin geht es?

Zuerst an eine fünftägige Konferenz in Vilnius, Litauen. Sie wurde von der «European Society of international Law» organisiert und ich bin für ein «Panel» eingeladen worden. Von da geht es weiter nach Berlin an ein Seminar – und dann wieder zurück nach Kampala.

Genau, Kampala. Ich musste googeln: Das ist die Hauptstadt von Uganda. Da wohnst du momentan?

Ja, seit Anfang Juni. Ich arbeite dort für den Internationalen Strafgerichtshof in Uganda und der Demokratischen Republik Kongo.

Wenn ich «Internationalen Strafgerichtshof» (IStGH) höre, denke ich sofort an Den Haag.

Das ist eigentlich auch richtig. In Den Haag befindet sich das Hauptquartier. Aber der Strafgerichtshof hat nichts mit der UNO zu tun. Es handelt sich um eine unabhängige internationale Organisation, der inzwischen 124 Nationen angehören – inklusive der Schweiz. Sie haben das entsprechende Römer Statut (red. Anm.: dabei handelt es sich um die vertragliche Grundlage) unterzeichnet, und dem IStGH damit die juristische Verantwortung für die vier «schlimmsten» internationalen Verbrechen gegeben.

Diese wären?

Der IStGH ist grundsätzlich für Verbrechen der Aggression bzw. einen militärischen Angriff auf ein anderes Land, für Kriegsverbrechen, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord zuständig.

Dominic Ongwen wurde 2021 schliesslich verurteilt; wegen 70 Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Und darum geht es auch in Uganda?

Ja. Der IStGH hat in diversen Ländern Büros, die sich um dortige Prozesse bzw. Fälle kümmern. Unseres ist zuständig für Uganda und den Kongo.

Was für Verbrechen wurden da verübt?

Das ist etwas kompliziert. Ein Begriff, der einigen etwas sagt, ist wohl die «Lord’s Resistance Army». Diese Terrororganisation wurde 1987 von Joseph Kony im Norden Ugandas gegründet und verstand sich als Widerstandsbewegung gegen die Regierung. Sie ging mit beispielloser Brutalität gegen die Zivilbevölkerung vor. Im Jahr 2003 wurde der Chefankläger des IStGH von der ugandischen Regierung gebeten, diese Verbrechen im Norden des Landes zu untersuchen. Zwar wurde der Anführer Joseph Kony nie gefasst, aber dafür einer seiner Ranghöchsten Kommandanten Dominic Ongwen. Er wurde 2021 schliesslich verurteilt; wegen 70 Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Damit einher gehen auch Kompensationszahlungen für die Opfer. Das ist unserer Aufgabe.

Ihr zahlt diese aus?

Das ist der letzte Schritt, ja. Zuerst geht es darum, die Opfer in Zusammenarbeit mit regionalen Organisationen aufzuspüren, zu identifizieren und schliesslich geeignete Massnahmen zu definieren.

Nur schon das Identifizieren der Opfer ist eine grosse Herausforderung. Das Festlegen der weiterführenden Massnahmen sowieso.

Wie viel bekommt so jemand?

Das ist einer der grossen Diskussionspunkte. Im Fall von Dominic Ongwen geht der IStGH von mindestens 50’000 direkt betroffenen Opfern aus. Diese erhalten alle einen symbolischen Betrag von 750 Euro. Dieser wird unabhängig vom jeweiligen individuellen Schicksal – es gibt Menschen, die bei einem Überfall verletzt wurden oder andere, die 10 Jahre als Kindersoldat dienen mussten – ausbezahlt. Er soll vor allem zeigen: Wir anerkennen dich als Opfer. Der zweite Teil der Kompensationszahlungen richtet sich nach den lokalen Umständen. Sie können beispielsweise in medizinische, Trauma-bekämpfende oder wirtschaftliche Unterstützungsprogramme fliessen.

Das klingt nach einer Endlos-Aufgabe.

Natürlich ist das eine riesige Geschichte, ja. Nur schon das Identifizieren der Opfer ist eine grosse Herausforderung. Das Festlegen der weiterführenden Massnahmen sowieso. Ausserdem wurden diese Kompensationen in Den Haag festgelegt, weit weg von Uganda, in einem 314-seitigen Urteil. Und in vielen Bereichen lässt es sich nicht wirklich allzu gut auf die lokalen Verhältnisse anpassen.

Habt ihr da einen gewissen Interpretationsspielraum?

Nein. Es handelt sich um ein gerichtliches Urteil und wir müssen das auch Wort für Wort umsetzen.

Unsere Arbeit im Ostkongo ist 100 bis 200 Kilometer von den aktiven Konfliktzonen entfernt. Da herrscht dann schon eine andere Stimmung.

Ich nehme an, du bist nicht täglich in Kontakt mit den Opfern. Trotzdem beschäftigst du dich mit den dort verübten Gräueltaten und erlebst das Wohlstands-Gefälle zwischen Europa und diesem Teil der Welt. Plagt dich das?

Hier in Uganda wird einem das Elend weniger klar vor Augen geführt. Schliesslich herrscht seit langer Zeit Frieden und vielen Menschen geht es verhältnismässig gut. Aber wenn wir im Ostkongo sind, ist die Situation eine andere. Unsere Arbeit dort ist 100 bis 200 Kilometer von den aktiven Konfliktzonen entfernt. Da herrscht dann schon eine andere Stimmung. Alles in allem habe ich aber, glaube ich zumindest, eine gesunde emotionale Distanz und versuche, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Aber klar, manchmal ist das Ganze schon frustrierend.

Weil du realisierst, dass Organisationen wie der IStGH immer «hinterherhinken»?

Genau. Natürlich ist die Arbeit am IStGH extrem spannend und wertvoll. Ich wollte schon immer für eine Institution arbeiten, die sich für das Völker- und Menschenrecht einsetzt. Und der Internationale Strafgerichtshof ist DIE Organisation dafür. Aber inzwischen ist mir auch bewusst geworden, dass sogar eine so mächtige Institution nur begrenzt etwas bewirken kann. Das geht mir oft nahe.

Was hilft da?

Man muss versuchen, sich auf die konkreten, kleinen Erfolge zu konzentrieren. Grundsätzlich ist ja jede Familie, der man helfen kann, ein grosser Fortschritt.

Mittelfristig will ich schon zurück in die Schweiz. Zum Glück gibt es da, zum Beispiel in Genf, ja viele Organisationen, bei denen ich mich wohlfühlen würde.

Wie lange bleibst du denn noch in Kampala?

Das ist noch nicht ganz klar. Mein aktueller Vertrag läuft Ende September aus. Derzeit bin ich in Gesprächen über eine mögliche Verlängerung. Eigentlich will ich nicht mehr Vollzeit dort bleiben. Aber vielleicht ergibt sich eine Teillösung mit Den Haag. Mein soziales Umfeld in Europa – und meine Partnerin in Den Haag – fehlen mir schon sehr.

Und was ist mit der Schweiz? Du bist nun schon lange im Ausland tätig. Kommst du irgendwann zurück?

Das stimmt. Aber gemeldet bin ich nach wie vor in Niederteufen bei meinen Eltern. Das hat auch damit zu tun, dass ich beim IStGH nicht «angestellt» bin, sondern als externer Berater arbeite. Und ich habe zwar gerade keine konkreten Pläne für eine Rückkehr – aber mittelfristig will ich schon zurück in die Schweiz. Zum Glück gibt es da, zum Beispiel in Genf, ja viele Organisationen, bei denen ich mich wohlfühlen würde.

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