Willi Müller*
Es sind jetzt gut dreiviertel Jahrhundert her, dass ich in jener scheusslichen Gebärwerkstatt im Krankenhaus in Teufen in dieses Jammertal gepresst und dann unverzüglich in einem ebenso dunklen Nebenraum in Quarantäne gebracht wurde. Und das alles unter nicht ausschliesslich erfreulichen Prämissen, die ich aber für mich behalten möchte. Die Eltern waren Katholisch. Mutter sehr, Vater weniger. Und überhaupt war Vater noch die nächsten vier Jahre mehr oder weniger im Militärdienst, was unter anderem zu der höchstens teilweisen Freude über meine Ankunft geführt hat.
Jedenfalls, meine Eltern, beide, kamen aus St. Gallen und wurden nie Teufner. Nicht nur weil sie sich darum nicht bemüht hätten, auch aus Sicht der Teufner waren sie – waren wir, ich war ja von nun an mit dabei – „Zoezogni“. Und dann noch Katholisch! Zum Katholiken gebrandmarkt hat mich noch jener sehr konservativ katholische Pfarrer Bächtiger, vor dem meine Mutter in Respekt erstarrte. Vater scheint ihn weniger geschätzt zu haben. Er fuhr jedenfalls grundsätzlich nach St. Gallen zum Gottesdienst, sofern er gerade einmal nicht am Stoss mit Vaterlandsverteidigung beschäftigt war.
Doch lassen wir diese allererste Zeit, von der ich sowieso in der Beziehung nicht viel mitbekam. Beginnen wir mit dem Kindergarten. Tante Mili hiess die Kindergärtnerin, und der Kindergarten fand in der alten Dorfturnhalle in einem oberen Raum statt. Allerdings weitgehend ohne mich. Ich habe ihn gekonnt geschwänzt, bis die Tante Mili zu uns nach Hause kam, um zu fragen, weshalb der Willi nicht mehr in den Kindergarten komme. Davon wussten meine Eltern selbstverständlich nichts, denn ich war nicht so blöd, mich zu weigern. Es gab immerhin eine Znünibrot. Das ass ich dann irgendwo beim Warten, bis die anderen vom Kindi zurückkamen.
Nach dem Besuch der Tante Mili war die Sache mit dem Kindergarten erledigt. Wozu hätten meine Eltern dafür bezahlen sollen, wenn ich sowieso nicht hinging. Aber mit Katholisch hat das nichts zu tun, also lassen wir es.
Das mit den konfessionellen Unterschieden fängt erst mit der Schule an. Im Advent mit der Mutter bei Eiseskälte frühmorgens um halb Sieben in die Rorate. Da wurde gesungen, gebetet und gefroren, das Jammertal beklagt und der Heiland herbeigesehnt. So richtig innig wurde mein Katholizismus in jener ungemütlich düster wirkenden, neugotischen, ziemlich diasporatisch billig gebauten Kirche jedenfalls nicht.
Unter den Kindern spielte die Konfession noch keine Rolle. Keine? Nun ja, „Katolik – verreck am Strick“ und „refemiet – s Födle verschmiet“ flogen schon mal hin und her. Und Nachbars Heidi fragte mich, was das – an jenem Juni-Donnerstag – für ein Umzug gewesen sei im Pfarrgarten. Für weniger Eingeweihte: sie sprach von der Fronleichnamsprozession.
Und jetzt wird es politisch. Denn eine richtige katholische Prozession veranstalten, in einem anständigen reformierten Dorf wie Teufen, das wäre nun wirklich zu weit gegangen. So presste sich das, was man fast in Anführungszeichen als Prozession bezeichnen möchte, eng um die katholische Kirche, durch den eigenen Kirchgarten mit Altärchen an jeder Hausecke, aber mit Kirchenchor und allem. Und der reformierte Bauer nebenan musste normalerweise leider grad zur gleichen Zeit bschötten.
In der fünften und sechsten Klasse, bei eben jenem Lehrer Werner Niederer (es stand in der Tüüfner Poscht), dem Läbsch Werner, gab es Bibelunterricht. In der fünften Klasse mussten wir noch mitmachen, in der sechsten waren wir dispensiert. Dieser Umstand hat uns gleich mehrfach belastet. Zum einen, in der fünften, stellte ich mit gewissem Erstaunen fest, dass in der reformierten Bibel etwa das steht, was auch die katholische sagt. Zum anderen: Wir kamen uns mit dem Dispens mehr ausgeschlossen als bevorzugt vor.
Überhaupt, der Religionsunterricht. Dem Herrn Pfarrer Selva, einem sehr, sagen wir, temperamentvollen Menschen wurde nachgesagt, er könne es mit den Reformierten besser als mit den Katholischen. Auch wenn das zum Teil schlecht verstanden und missinterpretiert wurde, er hat mit dieser seiner Art viel zur Entspannung zwischen den beiden Konfessionen beigetragen. Nur, das reformierte Schulhaus Hörli für seinen katholischen Religionsunterricht betreten – eher müsste man sagen entweihen – , das wäre dann doch zu viel verlangt gewesen. Kam gar nicht in Frage. Wir besuchten zusammen mit denen vom Bühler und jenen aus der Göbsi den Religionsunterricht am Samstagnachmittag im Pfarrhaus. Das schützte uns gleichzeitig vor so abwegigem und strikte verbotenem Tun wie dem Mitmachen bei den reformierten Pfadi. Die halbe Klasse – mindestens – war dabei. Und ich war katholisch. Sch…
Und den Sonntag hat uns der Katholizismus gleich gänzlich vergällt.
Am Vormittag, sofern man nicht um halb Sieben zur Frühmesse gehen wollte – und wer will das schon – , musste man das Hochamt besuchen. Lange, langweilig, kalt. Und Fräulein Angehrn orgelte, schlecht, aber sie sang mit. Und der Kirchenchor sang auch und sogar ich merkte, dass da nicht alles stimmte. Und der Pfarrer Selva drehte sich am Altar eins ums andere Mal um und fragte „Dominus wo bist du“ (lat. Dominus vobiscum, Der Herr sei mit euch). Und dann predigte er, mitunter sehr markant. Einmal, so erinnere ich mich: „Rom sagt, … ich aber sage euch“, was ihm prompte eine Klage beim Bischof eintrug. Für diese Klage rächte er sich in einer späteren Predigt mit „Familie Heuchler-Hehler hat beim Bischof geklagt,“ Und dergleichen mehr.
Auf der anderen Seite lästerte auch er über das unsittliche Treiben im Schwimmbad und über „die modernen Zigeuner“, die sich im Sommer mit Zelten auf Camping-Plätzen herumtrieben, wie die gottlosen Reformierten. Gemeint waren mit den Zigeunern der Zahnarzt Tachezy und – wir. Wir trugen es mit Fassung. Dennoch, der Spruch gegenüber Wäle Hohl, Gott wäre wohl etwas grosszügiger, ist ebenfalls typisch für Pfarrer Selva. Die Zeit des Erwachens aus der beiderseitigen religiösen Erstarrung war im Anbrechen.
Noch ein Wort zu jener Christenlehre. Das war auch so etwas. Jeweils am Sonntagnachmittag von halb Zwei bis Zwei in der Kirche, alle Schüler gleichzeitig. Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, was da abgehandelt wurde. Geistig war ich wohl nicht ganz dabei. Wichtig war lediglich die Präsenzkontrolle. Eine Karton-Tabelle mit den Namen aller und mit Löchern am rechten Rand und einem Schuhnestel, den man durch die Löcher bei den Namen jener ziehen musste, die da waren – nur durch jene! Aber tobte nicht gerade ein Bubenkrieg, waren wir ziemlich solidarisch. Und wenn wir nach der Christenlehre ins Schwimmbad gingen, wo alle Reformierten längst waren, wählten wir den Weg über den Zeughausplatz. Da sah uns der Pfarrer weniger.
Zurück zu den Reformierten. Sie waren natürlich in der Überzahl und wir passten uns zweckmässigerweise möglichst gut an. Aber dem Vernehmen nach soll auch Pfarrer Koprio nicht immer nur gut über die Zugezogenen Innerrhoder und St. Galler gedacht und gesprochen haben. Dafür soll das pfarrerliche politische Wort, bescheiden ausgedrückt, von Gewicht gewesen sein. Gehört habe ich es natürlich nicht. Es war den Angehörigen beider Konfessionen bei Androhung der Hölle verboten, das gegnerische Gotteshaus auch nur zu betreten, geschweige denn an einem dortigen Gottesdienste teilzunehmen. Jedenfalls habe ich nie einen Reformierten in einem unserer Gottesdienste angetroffen. Wir hingegen, wir sassen an der Schul-Schlussfeier – mit pfarrherrlichem Indult selbstverständlich – in der reformierten Kirche. Sonst hätte ich noch mit Zwanzig nicht gewusst, wie sie innen aussieht.
Und die reformierten alten Weiber! Auf dem Weg von der Bündt zur Frohen Aussicht war es, wo mir die zwei begegneten. Sepp Manser hatte gerade eben vom Beck Boff die Bäckerei neben dem Adler übernommen. Und die zwei Damen lästerten lauthals: „Ischt jo scho verrockt! Etz chaa me denn bald gad no katolesches Brod chaufe i demm Doef“ (für Auswärtige: Übersetzung beim Verfasser erhältlich).
Und dann folgten die Sechziger Jahre, das Dorf explodierte förmlich, mit lauter Zugezogenen selbstverständlich, und ein ganzes Zeitalter, eine ganze Kulturepoche zerbröselte zu Staub und Erinnerung. Als wäre auch das schon 500 Jahre her.
Willi Müller (Tüüfner Chopf 3/2004) wurde am 28. Mai 1941 im damaligen Gemeindekrankenhaus geboren und ist in der Ebni aufgewachsen, wo seine Eltern ein Büstenhaltergeschäft betrieben. Nach der Matura an der Kanti St. Gallen folgte ein betriebswirtschaftliches Studium an der HSG St. Gallen, das er mit dem Doktorat abschloss. 1982 wurde er zum ersten Finanzsekretär von Appenzell Ausserrhoden gewählt. Seit seiner Pensionierung 2004 beschäftigt er sich unter anderem leidenschaftlich mit der Geschichte des Gääser Bähnli und ist Gründungsmitglied und Präsident des Museumsvereins Appenzeller Bahnen. TP