Mit einem der ganz grossen – und lange verkannten – Werke der Musikgeschichte hat die Bachkantorei Appenzeller Mittelland am Wochenende ihr 30-Jahr-Jubiläum und gleichzeitig ihr Ende gefeiert.
Gottlieb F. Höpli
Die Marienvesper von Claudio Monteverdi, entstanden 1610 und drei Jahrhunderte lang vergessen, ist ein komplexes Werk zwischen Renaissance und Frühbarock und trägt neben sakralen auch konzertante, ja opernhafte Züge. Sie verlangt daher nicht nur den Aufführenden, sondern auch den Zuhörern mehr ab als etwa eine Bachkantate, die aus uns schon näherer Zeit stammt.
Doch in der vollbesetzten Grubenmann-Kirche herrschte am Samstagabend während über 90 Minuten konzentrierte Aufmerksamkeit. Die belohnt wurde mit fast überirdischen musikalischen Momenten, die einem Schauer über den Rücken jagen konnten: überraschende Raum- und Echo-Wirkungen (soweit sie eine reformierte Kirche überhaupt zulässt), meditative Versenkung, ekstatischer Jubel, mitreissende Rhythmen durch einen „wandernden“ Bass, wie er auch im Jazz und Pop verwendet wird.
Wilfried Schnetzler, der hochverdiente Gründer und Leiter der Bach-Kantorei Appenzeller Mittelland, hat mit einer unvergesslichen Aufführung dieses schwierigen Werks sich und uns ein kostbares Geschenk gemacht. Noch kaum je sind die Sängerinnen und Sänger in den vergangenen 30 Jahren wohl so gefordert worden wie in diesem „Vespro della Beata Vergine“. Transparenz und Klarheit der Stimmen, Dynamik und Rhythmus als kompakter Klangkörper – der Chor hat hier, in allen seinen Registern, eine Reifeprüfung abgelegt, die den Abschied schwer macht. Kaum vorstellbar, dass es für die rund 40 Chormitglieder mit dem Singen künftig vorbei sein soll!
Die vielfältigen und höchst anspruchsvollen solistischen Aufgaben der Marienvesper wurden von einem jungen Vokalensemble hervorragend gelöst: Angefangen beim umfangreichsten Part des virtuos beweglichen Tenors Raphael Höhn, über die Sopranistinnen Susanne Seitter und Alexa Vogel, die etwa dem höchst sinnlichen „Pulchra es“ aus dem Hohelied Glanz verliehen, zur Altistin Antonia Frey, dem Countertenor Timo Klieber, Höhns Tenor-Kollegen Achim Glatz, Nicolas Savoy und Manuel Gerber sowie den Baritonen Fabrice Hayoz und Daniel Pérez – allesamt mit untadeligen, mehr noch: mit rundum bestechenden Leistungen.
Zum Gelingen trugen die Musikerinnen und Musiker des Ensemble la Fontaine ganz wesentlich bei: als Beitrag zum austarierten, transparenten Klangbild, in präzis musizierten synkopierten Verzahnungen, im Jubel der Zinken und Posaunen. Da wurde nicht einfach „begleitet“, da wurde von Könnern der historischen Aufführungspraxis lebendig und kompetent mitmusiziert.
Unmöglich, die Höhepunkte der Aufführung alle zu benennen! Wie man gleich zu Beginn gefangen wurde durch die Tenor-Anrufung „Deus in adiutorum meum intende!“, das wie aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Die Tenor-Motette „Nigra sum“, der rhythmische „Flow“ des Continuos in Laetatus sum“, die Raumwirkungen der Tenorstimmen in „Duo Seraphim“, die fast opernhaften Echo- und Wortspiele in „Audi coelum“ , das Instrumental-Concerto „Sancta Maria“ – des Aufzählens dürfte eigentlich kein Ende sein!
Unmöglich hingegen, das abschliessende Magnificat nicht zu erwähnen, das nochmals alle Facetten dieses wunderbaren Werks versammelt, von der Innigkeit des „Et misericordia“ bis zum triumphalen Schlussjubel „Sicut erat in principio“ (wie es war im Anfang jetzt und immerdar) – das gilt auch für die Faszination der Marienvesper Monteverdis!
Nachfolgend fotografische Impressionen vom Festkonzert der Bachkantorei in der Grubenmannkirche in Teufen.