


Rund 50 Personen haben, trotz Wind und Regen am Donnerstagabend, 23. Oktober, den Weg ins Alterszentrum «Wohnen am Rotbach» im Bühler gefunden. Silvia Hablützel, Präsidentin des Vereins «Forum Palliative Care Rotbachtal», begrüsst alle Anwesenden zum Impulsanlass herzlich. An der Rückwand steht in grossen Buchstaben «DIE KUNST DER BEGLEITUNG» von schwerstkranken und sterbenden Menschen.
Aus Wissenschaft und Praxis
Dr. med. Raoul Pinter, leitender Arzt im Palliativzentrum Grabs und Altstätten von «HOCH» (Health Ostschweiz) ist vorwiegend für den theoretisch-wissenschaftlichen Teil des heutigen Abends zuständig. Er stützt sich dabei im Besonderen auf die Grundlagen des Begründers der «WzT» (Würde zentrierte Therapie), H.M. Chochinov. Dieser hat durch Befragung von schwerkranken Menschen festgestellt, dass nebst den krankheitsbedingten Leiden ein Verlust von Würde sie am meisten plagt.
Gleich zu Beginn stellt Pinter drei Fragen in den Raum und lässt genügend Zeit, um in sich zu gehen und sie für sich zu beantworten Erstens. Was sind die drei wichtigsten, wertvollsten Dinge in meinem Leben? Zweitens: Was macht mein Leben lebenswert? Drittens: Worauf möchte ich auf keinen Fall verzichten?
Das Publikum merkt schnell, hier spricht in erster Linie ein Mensch (selbst Vater von sechs Kindern, unter anderem begeistert von Sport und Natur …) mit grosser Erfahrung, verbunden mit der Offenheit und Wärme, diese mit den Anwesenden zu teilen. Er macht dies bewusst nicht auf «HOCH-deutsch», sondern in seinem ursprünglichen Dialekt aus Niederösterreich (Nähe Wien). So kann er Emotionen und Stimmungen möglichst authentisch schildern. Die anonymisierten Beispiele aus dem Alltag verdeutlichen die theoretischen Ansätze und berühren tief.
So die Geschichte des einst muskulösen, jetzt völlig abgemagerten, jungen Mannes, der sich nicht mehr um seine Familie kümmern kann, seine Rolle als Beschützer und Ernährer verloren hat, sich körperlich und vor allem auch seelisch in einer existentiellen Krise befindet. «Der Mensch ist mehr als Fleisch und Blut, mehr als sein physischer Körper (der zerfällt). Über den biologischen Bereich hinaus sind kulturelle, soziale, psychische und spirituelle Aspekte wichtig und eben auch Gefühle der ‘Würde und Autonomie’.»
Mit dem Modell «SENS» (übersetzt «Sinn» oder erweitert gar Sense) werden vier Schwerpunkte erläutert: S, für Symptome erfassen, verbessern; E, für Entscheidungen fällen (Patientenverfügung, Erbangelegenheiten usw.); N, für Netzwerk (wer macht die professionelle Begleitung, Fachärzte?); S: für Support/Unterstützung (wie geht es dem Umfeld, nicht zuletzt den Pflegenden und Ärzten?).
Erneute Frage ins Publikum: «Was wird wichtig, wenn man alles verliert? Was löst es bei Ihnen aus, wenn sie sich vorstellen, alles zu verlieren? Was und wo im Körper spüren Sie es?»
«Wenn man seine Visionen und Träume verloren hat: Was wäre Ihre Hoffnung? Oft ist jedoch das, was sich ein Patient vorstellt, aus rein medizinischer Sicht nicht mehr umsetzbar. Gleichzeitig sagt die Wissenschaft: Wer seine Träume, Hoffnungen und Würde verliert, will schneller sterben». Die eigentliche Würde-Frage (Dignity Question) lautet: «Was muss ich über Sie als Mensch wissen?»
Letztlich geht es – nebst den krankheitsbezogenen Faktoren – um «Würde bewahrende Perspektiven», z.B. das Aufrechterhalten von Rollen, dem eigenen Vermächtnis, die Bewahrung von Stolz und Hoffnung, Autonomie und Kontrolle, aber auch die Akzeptanz (der Situation), im Hier und Jetzt leben, eine gewisse Normalität aufrechterhalten und das Streben nach spiritueller Stärkung. Wichtige soziale Faktoren sind: Privatsphäre, pflegerische Grundhaltung, Anderen (k)eine Last sein, Sorgen um die Zukunft von Angehörigen.
Wie lange ist nie mehr
«Dem Erzählbedürfnis (Narration) am Lebensende Raum geben, über das Sterben sprechen, Sterbenswünschen aktiv zuhören; darum geht es in der Würde zentrierten Therapie. Auf den Punkt gebracht, ist es ein letzter Brief als Geschenk an die Angehörigen», erklärt Dr. Pinter, bevor er Doris Büchel nach vorne bittet. Doris Büchel (geb. 1971, Buchs SG) ist Schriftstellerin, Biographin und zertifizierte Anwenderin der Würde zentrierten Therapie. Sie ist Autorin des Buches «Wie lange ist nie mehr», erschienen im Wörtersee Verlag.
Aus ihrem Buch liest sie einzelne Passagen vor. Zuerst die von Elsa. «Elsa war meine allererste Patientin, ungefähr gleich jung, wie ich selber und sie hat es mir letztlich einfach gemacht.» Doch so einfach war es keinesfalls. Doris Büchel erzählt offen und spannend, wie es ihr damals zumute gewesen ist, welche Gedanken und Ängste sie plagten und was doch ganz anders kam.



Aus ihrem Buch liest sie weitere berührende Abschnitte vor und gibt tiefe Einblicke in die Methode «WzT». Mit dem Aufnahmegerät werden die Gespräche aufgenommen, dann erfolgt das Erfassen und Ausformulieren am PC. Das Ergebnis wird dem Patienten vorgelesen und wenn gewünscht weitere Anpassungen vorgenommen. Diese Methode ermöglicht es Menschen im letzten Lebensabschnitt, Erinnerungen und prägende Momente ihres Lebens schriftlich festzuhalten und die eigenen Hoffnungen und Wünsche mit anderen zu teilen. Das wirkt für viele Sterbende entlastend, befreiend und lässt sie inneren Frieden finden. «Alle Menschen sind individuell und selbstverständlich sprechen nicht alle auf diese Methode an. Manche mögen lieber Musik oder einen Begleithund oder etwas anderes», präzisiert Dr. Pinter in der anschliessenden Diskussionsrunde.
Am Schluss lädt Vereinspräsidentin Silvia Hablützel alle Anwesenden zum leckeren Apéro des Küchenchefs «Wohnen am Rotbach» ein und meint, dass «wir uns nun wieder aktiv und mit Freude dem Leben zuwenden».