Vom Armenhaus zum Bürgerheim 1952–1965 (2. Teil)

14.05.2017 | TPoscht online
Bächli 1
Frau Ladner (links) ist sehr froh, dass sie nach langem Suchen einen Menschen gefunden hat, der ihr die schwere Arbeit etwas leichter macht – die «gschaffige» Lindi aus der Steiermark.


Die vorbildliche Führung des Bürgerheims Teufen unter der Leitung des Ehepaars Ladner – siehe Aprilausgabe der Tüüfner Poscht (3/2017) – schien sich herumgesprochen zu haben. In einer Schweizer illustrierten Zeitschrift (vermutlich «Die Woche», später Schweizer Illustrierte) erschien ca. 1963 eine einfühlsame Bildreportage über das Teufner Bürgerheim – entdeckt im privaten Fotoalbum von Barbara und Felix Ladner. Die Bilder des unbekannten Fotografen, obwohl von schlechter Druckqualität, dokumentieren eine Zeitreise fünfzig Jahre zurück.
Erika Preisig

Von Peter Farner (ca. 1963)

Seien wir einmal ganz ehrlich: die berühmte «gute alte Zeit» war in vielem gar nicht so gut, wie man dauernd erzählt. So stand — und steht heute noch — in jeder besseren Gemeinde ein Gebäude, von dem man nicht gern sprach und um das man einen weiten Bogen machte, denn es war das Armenhaus. Und die Menschen darin waren die «Armenhäusler», die als minderwertig galten und mit denen man so wenig wie möglich zu tun haben wollte. Wie wenn Armut eine Schande wäre! Heute denkt man bedeutend menschlicher, was im Grunde paradox ist; denn gerade heute, da der Wohlstand grösser ist und es viel weniger arme Leute gibt als früher, gerade heute sieht man nicht mehr auf jene hinunter, die kein Bankkonto besitzen.
Heute sind sie keine Ausgestossenen mehr, sondern Menschen wie du und ich. Das ist zur Abwechslung einmal kein technischer, sondern ein menschlicher Fortschritt.

Das ist Gotthold, seit 1949 im Bürgerheim. Er macht sich überall nützlich und hat den Witz, der den Appenzellern eigen ist. «Es ist gut», meint er, «dass man zwei Hände hat zum Arbeiten. Aber für den Most tut es eine …»


Ein Taschengeld für die Bewohner

Auch in Teufen im Appenzellerland gibt es ein solches Gebäude, aber man nennt es nicht Armenhaus, sondern Bürgerheim. Diese Bezeichnung ist nicht nur würdiger, sie ist auch zutreffender, weil man nicht unbedingt arm sein muss, um als Bürger dieser Gemeinde in diesem Haus wohnen zu dürfen. Nur schon die Tatsache, dass einer keine Angehörigen mehr hat oder daheim «überzählig » ist, weil die Jungen heiraten und Kinder bekommen, gibt ihm das Recht, hier seinen Lebensabend zu verbringen, ganz gleich, ob er Erspartes hat oder nicht. Und im Übrigen haben wir es immerhin so weit gebracht, dass es heute keine alten Leute ohne einen Rappen Geld mehr gibt, weil jeden Monat einmal der Pöstler kommt und die AHV bringt. So brauchen sich heute die armen Insassen keine Vorwürfe mehr zu machen, dass sie dem Staat auf der Tasche liegen, weil sie ja mit ihrer Rente wenigstens einen Teil ihres Lebensunterhaltes selber bestreiten können. Zehn Prozent der Rente erhält jeder Bewohner des Bürgerheims als Taschengeld.

Frau Ladner hilft der gebrechlichen Emma, während Felix Ladner den alten, aber noch immer regsamen Jakob «anzündet».


Ein heiterer Ort, wo alle willkommen sind

Es ist aber zuletzt das Finanzielle, das die Teufner davon abhält, ihr Bürgerheim abschätzig Armenhaus zu nennen. Es ist nämlich in dem schönen Appenzeller Haus am Abhang, mit Aussicht auf den Säntis, und in den Menschen, die hier wohnen, so viel Heiterkeit, dass niemand überhaupt auf den Gedanken kommt, er könnte da verschupft oder gar «versenkt» sein. Von «versenkt » kann schon gar keine Rede sein, denn alle vierzig Männer und Frauen bewohnen ohne Ausnahme das Bürgerheim freiwillig, weil sie alleinstehend und physisch oder psychisch gebrechlich sind. «Zwangsgäste» — Teufener also, die andernorts unerwünscht sind und dann von der Polizei in ihren Bürgerort abgeschoben werden — sind in Teufen zum Glück sehr selten. Die Heiterkeit in und um das Haus kommt nicht von ungefähr; sie kommt von den Leitern Barbara und Felix Ladner, die offiziell «Armeneltern» heissen, von ihren Schützlingen aber liebevoll «Eltern» genannt und mit «Vater» und «Mutter» angesprochen werden.

Jeden Freitag kommt Coiffeur Gautschi aus dem Dorf, um die Männer zu rasieren, und alle 6–7 Wochen um die Haare zu schneiden.


Wer noch einigermassen zwäg ist, hilft mit

Mancher Psychologe mit einer grossen Praxis könnte von dem Ehepaar noch lernen, wie man mit oft recht schwierigen Menschen, die nach dem Lehrbuch ganz hoffnungslos sind, mit Fingerspitzengefühl umgeht. Ich habe selber gesehen, wie eine streitsüchtige alte Frau die Hausmutter mit Vorwürfen überhäuft hat. Sie hat gar nicht darauf reagiert, sondern der bösen alten Dame, wie wenn nichts wäre, eine Salatschüssel in die Hände gegeben und nur gesagt: «Sig so guet und träg dä Salat i d Stube!» Die Keiferin war so verblüfft, dass sie, ohne zu reklamieren, den Salat wirklich in die Stube gebracht hat. Und mit Schwerhörigen und Taubstummen führt Frau Ladner mit der grössten Selbstverständlichkeit die längsten Gespräche, als fehlte ihnen überhaupt nichts.

Die Frau Ladner ist wirklich ein Phänomen. Sie hat ein vollgerütteltes Tagewerk und kennt die 5-Tage-Woche nur vom Hörensagen. Trotzdem ist diese Frau immer fröhlich und sieht stets so frisch aus, als bestünde ihr Lebenslauf aus Spazieren und Kaffeetrinken. Wen wundert es da noch, dass sich ihre ständige Zufriedenheit auf ihre «Kinder» — von denen etliche ihre Grossväter und Grossmütter sein könnten! — überträgt und dass die Frau Ladner von allen nicht nur als wirkliche Vorgesetzte geachtet, sondern als wirkliche Mutter geliebt wird.

Herr Ladner schaut zum Landwirtschaftsbetrieb, der zum Bürgerheim gehört. Er umfasst 15 Hektaren mit 15 Kühen, 10 Stück Jungvieh, 5 bis 7 Schweinen, 2 Pferden und einem grossen Stall voll Hühnern. Ihm zur Seite stehen ein Küher und die Heiminsassen, die noch nicht so alt sind, dass sie nicht diese oder jene Arbeit verrichten könnten. Auch die Frau Ladner hat, wenn man so sagen will, Angestellte unter den alten Frauen, die ihr beim Putzen, Kochen und Abwaschen manches abnehmen. Seit einem Monat hat sie sogar eine regelrechte Hilfe aus der Steiermark. Das ist nicht selbstverständlich; denn, so sagt sie, «man findet einfach keine Leute, jüngere oder ältere, die noch soviel Idealismus haben, um in einem Heim zu arbeiten. Alle wollen heute ins Büro oder in die Fabrik; sie wissen gar nicht, wie glücklich eine solche Arbeit einen Menschen machen kann. Man wird reich, nicht nach aussen, sondern nach innen!»

Die Küchenbrigade Anna, Martha, Ernst und Ueli. Sie helfen nicht zuletzt der «Mutter» zuliebe.


Einfach in allem das Schöne suchen

Es gibt viele Insassen, die im Frühling das Heim verlassen, über den Sommer auf dem Bau oder in der Landwirtschaft arbeiten und auf den Winter jeweils wieder nach Hause kommen. Dass die alten Leute — der älteste Mann ist 87, die älteste Frau 86 — wirklich nicht im Gefängnis sind, zeigen die Freiheiten, die sie geniessen. Ausserhalb des Hauses darf jeder rauchen, so viel er will. Im Haus haben die Männer einen gemütlichen Rauchsalon, in dem viel gejasst wird. Nach dem Nachtessen darf jeder ins Dorf, wenn er will, und am Sonntag können sie machen, was sie wollen.

Als ich Herrn Ladner fragte, ob es nicht manchmal schwer sei, täglich von früh bis spät Gebrechliche aller Art um sich zu haben, da sagte er ohne Pathos: «Gewiss, es gibt schon Tage, da man meint, es sei nicht mehr zum Aushalten, und da man sich nach einem Leben unter gesunden Menschen sehnt. Aber das geht immer wieder schnell vorbei. Man muss doch einfach in allem das Schöne suchen und mit der Freude an Natur und Tieren den notwendigen Ausgleich haben. Und vor allem muss ich immer denken: Sei dankbar, dass du gesund bist!»

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