Sepp Zurmühle
Es ist Sonntag, 25. April, Morgendämmerung, 6.00 Uhr, ca. 5 Grad. Rund 40 Personen, darunter einige Kinder, sind anwesend. Sie alle möchten das Freiluftkonzert der Singvögel hautnah miterleben und versuchen, ob sie die einen oder anderen Virtuosen an ihren Gesängen, den Farben, Formen, Grössen, an ihren Bewegungen oder der Art des Fluges erkennen können.
Im Altersheim Lindenhügel brennen die ersten Lichter, es wird langsam Tag. Lucia Andermatt, Mägi Bischof und Andreas Kuster – die InitiantInnen des Projektes BiodiversiTAT – begrüssen die bunte Schar Frühaufsteher. Die zweite Aktion für Biodiversität Teufen steht unter dem Motto: «Vielfalt und Kleinräumigkeit». Der Schwerpunkt liegt bei den Vögeln. «Wer erkennt einen Vogel am Gesang»? Im Hintergrund sind bereits Vogelstimmen zu vernehmen und just im Moment der Begrüssung ist hoch am Himmel auch ein grosser, schwerer Vogel aus Metall und Kunststoff zu hören.
Es werden zwei Gruppen à ca. 20 Personen gebildet. Die eine führt Thomas Andermatt (Teufen) an die andere Rolf Knechtle (Bühler). Beide sind begeisterte Hobby-Ornithologen.
Bereits direkt beim Altersheim beginnt die gemütliche Morgenwanderung. «Dort hinten singt eine Kohlmeise, dort oben ein Zilpzalp ganz deutlich. Die Blicke richten sich himmelwärts. Einige zücken einen Feldstecher, um einen der Sänger besser zu erspähen und genauer zu beobachten. Beim Zilpzalp sind Männchen und Weibchen optisch praktisch gleich gefärbt. Sie ähneln den Fitis (Grasmückenart). Die Oberseite ist jedoch kräftiger graugrün und die Beinchen sind schwarz. Der Gesang des Zilpzalp ist eine rhythmische Abfolge von scharfen, einsilbigen Tönen in leicht unterschiedlichen Tonlagen «zilp zelp zelp zalp zilp…». Man könnte den Gesang als «Einstiegs-Übung» für den Laien betrachten, weil er «relativ leicht» zu erkennen ist. Die Betonung liegt jedoch auf «relativ», nicht zuletzt, weil bei diesem Outdoor-Konzert meist mehrere Solisten gleichzeitig und ohne Dirigent mit vollen Kehlen ihr Bestes von sich geben.
Auf dem Weg, via Untere Buche, hinunter zum Goldibach zeigt Thomas Andermatt in Richtung eines erkannten Vogelgesangs. Ist es ein Gartenrotschwanz bei dem die Männchen schwarze Kehlen und weisse Stirnen haben und die Weibchen einen braungrauen Kopf (nicht zu verwechseln mit dem Rotkehlchen). Weiter hinten ist ein Buchfink nicht zu überhören, einer unserer häufigsten Brutvögel. Das Buchfinken-Männchen hat ungefähr die Grösse eines Haussperlings (Spatz). Es ist jedoch bunt mit blau-grauem Oberkopf und rötlichen Backen. Das Buchfinken-Weibchen ist bescheiden bräunlich. Um den vielfältigen Ruf zu erkennen, braucht es bereits ein geschulteres Ohr. Es ist faszinierend mitzuerleben, wie einige in der Gruppe sehr schnell den einen oder anderen Vogel nur am Gesang lokalisieren und erkennen können. Das ist eine Fähigkeit, die einem den Zugang zur Vielfalt der Vogelwelt erheblich erleichtert. Sind doch viele der Gesangskünstler von Auge kaum erkennbar, weil zu weit weg, sehr gut getarnt oder später im Laub versteckt.
Vogelstimmen in der App
Stille und Kälte am Goldibach
Hier unten ist es wunderschön und gleichzeitig «saukalt» an diesem Sonntagmorgen. Alles ist noch im Schatten, das Gras ist nass, die Temperatur liegt nah am Gefrierpunkt (ein Kältesee hat sich gebildet) und ausser dem vielstimmigen Vogelgesang sind keine anderen Geräusche zu hören.
Es ist der perfekte Ort und der ideale Zeitpunkt, um Vögel und Vogelstimmen zu erleben. Die Landschaft ist recht vielfältig und ziemlich kleinräumig, auch die Vegetation trägt noch kein Laub. Es hat fliessendes und teilweise stehendes Wasser, Wiesen mit einigen kleineren Hochstammobstbäumen, viele andere Baum- und Sträucherarten, vielfältige Hecken, Totholz, Moos usw. Vieles damit sich Klein und Kleinstlebewesen wohlfühlen. Diese Insekten, Spinnen, Käfer, Würmer, vielerlei Larven usw. dienen wiederum den Vögeln als Nahrung; eine lebenssichernde, gegenseitige Vernetztheit. Zudem finden viele Vögel gute Voraussetzungen für ihren Nestbau in und an Schuppen, Holzlagern, älteren Gebäudestrukturen, hohlen Baumstämmen, Hecken aus einheimischen Pflanzen, Nischen oder auch am Boden.
Rolf Knechtle (in heller Jacke und Rucksack) arbeitet als Gärtner, u.a. seit vielen Jahren auch auf dem Friedhof in Teufen. Er ist ein fundierter Kenner und Liebhaber der einheimischen Vogelwelt und hat zudem ein hervorragendes «Musikgehör». Aus dem ganzen Wirrwarr an Vogelgezwitscher hört er die einzelnen Vogelarten heraus und erzählt spannende Details und Zusammenhänge. Er trauert der vorgängigen Hecke beim Friedhof nach, weil dort «hunderte Vögel, darunter auch sehr seltene» zu hören und sehen waren, die leider seit der monotonen Neubepflanzung mehrheitlich fehlen.
Einige von uns sehen die Wasseramsel dem Bachlauf entlang fliegen. «Und hier unten auf dem sandigen Lehm sind grosse Vogelkrallen zu sehen!» Vermutlich von einem Graureiher der hier Zwischenhalt machte.
Ein Stockenten-Paar gleitet langsam auf dem Wasser bachabwärts, während wir bachaufwärts Richtung Buchenmühle wandern und dem Vogelgezwitscher zuhören. Über uns kreisen Milane (erkennbar an ihren Schwalbenschwänzen) und Mäusebussarde, Amseln suchen nach Würmern.
«Da oben ruft und trillert laut und wunderschön ein Winzling unter den Singvögeln (nur 8 bis13 Gramm), als wolle er sich Gehör verschaffen; der Zaunkönig!» Einige von uns haben das Glück ihn zu entdecken. Wie ein hellbraunes Federbällchen stellt er seine orangefarbigen Schwanzfedern im Neunziggradwinkel in die Höhe und öffnet seinen Schnabel soweit es nur geht.
An einem Baumstamm am Bachlauf können wir einen hastigen Kleiber beobachten. Er wirkt etwas halslos und trägt beidseitig am Kopf einen schwarzen Strich in der Verlängerung des Schnabels über die Augen hinaus, als ob er sich mit einem Kajal geschminkt hätte. Mit seinen kräftigen Krällchen kann er sich an Baumstämmen halten und kopfüber nach oben und unten klettern. An dieser Fähigkeit ist er gut zu erkennen.
Beim Hochlaufen Richtung Mühlehaus kreist eine kleine Mehlschwalbe (oder evtl. Uferschwalbe) mehrmals über uns und setzt sich dann auf ein altes Telefonkabel, bevor sie weiterfliegt.
Zwei Türkentauben mit ihrem schwarzen Nackenstrich fliegen über unsere Köpfe hinweg zum Wäldchen hinunter. Ein paar Flügelschläge hintereinander, dann eine kurze Pause und wieder ein paar Flügelschläge; an diesem Flugrhythmus und natürlich am Gurren sind sie gut zu erkennen.
Vogelstimmen in der App
Noch nie gesehen…
Wir sind auf dem Rückweg, an der wunderschönen – vor wenigen Jahren neu gepflanzten – Wildhecke mit einheimischen – meist beerentragenden – Sträuchern entlang. Die Morgensonne wärmt unsere kalten Knochen langsam wieder auf. Plötzlich taucht für ein paar Sekunden ein seltener Gast mit leuchtend gelber Brust und langem Schwanz auf. Es sei eine Gebirgsstelze, weiss der Spezialist. Für die allermeisten von uns, welche den kurzen Glücksmoment miterleben durften, diesen seltenen, einzigartig schönen Vogel zu erhaschen, war es das erste Mal, ihn überhaupt gesehen zu haben. Gemäss vogelwarte.ch lebt die Gebirgsstelze mit Vorliebe an Bächen mit relativ rascher Strömung. Sie ist «ein Indikator für saubere, ungestörte und naturnahe Fliessgewässer». Das schmeichelt doch unserer Teufner Seele und gibt uns auch Zuversicht für die Zukunft.
Zu viel Ordnung und Struktur ist Gift für die Natur
«Was wir kennen, das schützen wir.» So ist es im Zwischenmenschlichen und so ist es auch gegenüber der Natur, von der wir ein kleiner Teil sind. Seit rund 200 Jahren beeinflusst der Mensch durch seine Handlungen und technischen Möglichkeiten den Planeten wie kein anderes Lebewesen je zuvor und immer noch stärker. Vor allem «unsere moderne Aufgeräumtheit» der letzten 50 Jahre, in der Funktion, Design und Rationalität dominieren, entspricht meist nicht den Bedürfnissen der Natur. Der direkte Bezug zu allen anderen Mitlebewesen fehlt zunehmend und so merken wir es nicht oder erst sehr spät, ob und was wir rund um uns verlieren, im schlimmsten Fall für immer. Das wollen viele von uns nicht und machen sich Gedanken für eine nachhaltige Zukunft. Dass die Biodiversität dabei eine absolut zentrale Rolle spielt, ist wissenschaftlich seit langem bekannt und wird gerade wieder neu entdeckt.
«Willst du die Welt verändern, so verändere dich selbst.» Was Mahatma Gandhi vor Jahrzehnten als persönlichen Leitsatz formulierte, passt als Grundhaltung sehr gut zum Projekt BiodiversiTAT Teufen. Jeder Mensch kann in seinem persönlichen Wirkungsbereich einen kleineren oder grösseren, positiven Beitrag zur Biodiversität leisten. Die Summe aller Teile bildet letztlich das Ganze.
Mit der wärmenden Sonne im Gesicht bedanken und verabschieden wir uns. Merci beaucoup vor allem an die beiden Hobby-Ornithologen, welche uns mit ihrem Wissen und ihrer Begeisterung für die kleinen, fliegenden und singenden Wesen in den Bann ziehen konnten. Viele von uns nehmen bleibende und nährende Erinnerungen mit nach Hause.