Vor eineinhalb Jahren stiess die Sängerin und Gesangslehrerin Hiroko Haag als Organistin zur Evangelischen Kirchgemeinde Teufen. Morgen absolviert sie nun ihren ersten Teil der Abschlussprüfungen für den Kirchenmusiklehrgang. Möglich ist das nur dank der bereits gefilmten Videoaufnahmen.
«Händ Si d Quittig wölle?» Hiroko Haag kann sich noch gut erinnern. Sie erschrak, als sie diesen schweizerdeutschen Satz zum ersten Mal hörte. Das war vor zehn Jahren. Damals war sie mit ihrem Mann Marc Haag von Norddeutschland nach St. Gallen gezogen. Er hatte eine Stelle am Theater St. Gallen (Tenor) bekommen. «Ich dachte mir: Meine Güte, das ist ja eine ganz andere Sprache.» Für Hiroko Haag eine besondere Herausforderung. Geboren und aufgewachsen ist sie in Japan. Später zog sie für das Gesangsstudium nach Hamburg und lernte dort Deutsch. Nun war Schweizerdeutsch an der Reihe. «Das hat noch einmal einiges an Zeit in Anspruch genommen.» Wahrscheinlich aber deutlich weniger, als viele andere dafür benötigt hätten. Dieser Gedanke drängt sich mindestens auf, wenn man die 43-Jährige in der Teufner Grubenmann-Kirche an der Orgel sitzen sieht – und hört. Kaum zu glauben, dass sich die Sängerin vor zwei Jahren zum ersten Mal an eine Orgel gesetzt hatte. Und am morgigen Sonntag absolviert sie nun bereits den ersten Teil der Abschlussprüfung für den Kirchenmusiklehrgang der Musikakademie St. Gallen. Ein Naturtalent also? «Ach, ich weiss nicht. Dieses Instrument hat mich einfach schon immer fasziniert und es zu spielen, macht mir Freude.» An diesem Mittwochnachmittag spielt Hiroko Haag aber ausnahmsweise nicht für die Kirchgängerinnen und Kirchgänger, sondern für die Kamera.
Prüfung über Leinwand
Im Normalfall findet der erste Teil der Abschlussprüfung im Rahmen eines Gottesdienstes statt. Der Grund: Die Prüfer wollen hören, wie gut Orgel und Gesang der Anwesenden harmonieren. Derzeit ist das aber noch nicht möglich. Zwar machen die farblichen Markierungen auf den Sitzbänken – eine muss jeweils frei bleiben – klar: Man bereitet sich auf die schrittweise Rückkehr zur Normalität vor. Aber Gottesdienste mit Gruppen über fünf Personen werden in Teufen erst ab Anfang Juni wieder durchgeführt. Natürlich ebenfalls unter Berücksichtigung der Schutzmassnahmen. Ob Hiroko Haag ihre Abschlussprüfung wie geplant absolvieren kann, war deshalb lange nicht klar. Schliesslich entschied sich die Musikakademie St. Gallen für einen innovativen Ansatz: Eine Live-Prüfung am morgigen Sonntag mithilfe der Filmaufnahmen vom vergangenen Mittwoch. «Wir spielen das Video für die Experten auf einer grossen Leinwand ab. Sie werden von Hiroko dann auf dessen Basis zusätzlich Aufgaben stellen können», erklärt Damian Imhof. Er begleitet die Evangelische Kirchgemeinde Teufen seit Anfang April als Filmer. Alle zwei Wochen – und zusätzlich zu den Feiertagen – veröffentlicht die Kirchgemeinde seither eine Andacht auf ihrem YouTube-Kanal. Die zum morgigen Auffahrtssonntag, inklusive Orgelspiel, wird ab heute Nachmittag um 16 Uhr verfügbar sein. Sie finden sie hier. Kurz vor den Aufnahmen wirkt Hiroko Haag noch gelassen: «Ich werde am Sonntag wohl nervöser sein als jetzt.» Sie hat allerdings einen Trumpf im Ärmel: Ihre grosse Bühnenerfahrung als Sängerin. «Etwas aufgeregt ist man immer noch. Aber die Routine hilft schon.»
Sängerin, Lehrerin, Organistin
Seit Oktober 2018 begleitet Hiroko Haag die Gottesdienste der Evangelischen Kirchgemeinde an der Orgel. Teufen kennt sie aber schon länger. Denn die St. Gallerin unterrichtet an der Musikschule Appenzeller Mittelland Gesang – genau wie an der Domsingschule in St. Gallen. Ihr Gesangshintergrund ist laut Pfarrerin Verena Hubmann für die Kirchgemeinde eine wertvolle Bereicherung: «Wir sind sehr, sehr glücklich mit Hiroko. Sie spielt nicht nur die Orgel wunderschön. Sie singt nebst dem Orgelspiel auch selbst und ist wahnsinnig flexibel.» Die Arbeit als Gesangslehrerin hat sich in den vergangenen Monaten allerdings auch stark verändert. «Ich habe einige Videos für die Lernenden aufgenommen. Aber richtige Proben mit Ensembles oder Chören sind natürlich nach wie vor unmöglich», so Hiroko Haag. Entsprechend gross ist auch bei ihr die Vorfreude auf die Wiederaufnahme von kirchlichen Anlässen. Gibt es eigentlich eine Feier, die sie besonders gern begleitet? «Ich mache alles gern. Aber die Taufen sind schon etwas Spezielles. Da singe ich dann jeweils auch ein Segenslied für das Kleine.»
Besteht Hiroko Haag am 12. Juni auch den letzten Teil der Abschlussprüfung, ist sie diplomierte Kirchenmusikerin. Der Evangelischen Kirchgemeinde Teufen will sie aber auf jeden Fall treu bleiben. «Sie haben mir vor eineinhalb Jahren eine Chance gegeben und die Zusammenarbeit funktioniert wunderbar und macht mir grosse Freude.» tiz