Obstbäume richtig schneiden

26.02.2024 | Sepp Zurmühle
WWF_Baeume-1
Impressionen vom WWF-Baumschneide-Kurs. Fotos: Sepp Zurmühle

Richtig Schwimmen lernt man nicht in Büchern. Man muss ins Wasser steigen. So ergeht es uns als Teilnehmende beim Schneiden von Obstbäumen. Erste theoretische Grundlagen sind jedoch zentral. Nur dank spezifischer Fachbegriffe kann schrittweise überhaupt verstanden und «mit neuen Augen» gesehen werden. Selber in die Bäume steigen und individuell entscheiden, was man stehen lässt oder wie man schneidet, ist dann die Krönung. Die Resultate zeigen sich ohnehin erst die nächsten Jahre.

Die Temperatur liegt noch um null Grad an diesem 24. Februar 2024 um 9 Uhr auf dem kleinen Betrieb von Jeannot Müller auf der Mehlersweid in Bühler. Die Sonne scheint erst scheu hinter den Hügeln im Süden. Naturgärtner Markus Allemann aus Schönholzerswilen (TG) begrüsst die sechs Wagemutigen, die sich heute getrauen werden, selber Obstbäume zu schneiden.

Einmalige Umgebung

Bereits die Anreise über die steile und enge Strasse hinauf zum Treffpunkt vor dem Haus auf der Mehlersweid ist eine Herausforderung. Zwei Teilnehmende reisen aus Teufen an, andere aus dem Thurgau und einer sogar aus Schwyz. Markus Allemann und Jeannot Müller empfangen die drei Frauen und drei Männer herzlich und geben erste Informationen über den Ort selber und den Tagesablauf.

Der Vater von Jeannot Müller hat seit 1958 auf den knapp vier Hektaren damaligem Wiesland 150 Obstbäume, viele andere und sogar Marroni-Bäume oder Kiwi angepflanzt sowie zahlreiche Hecken und eine Vielfalt an Sträuchern. So wurde die mehr als 900 Meter über Meer gelegene Liegenschaft schrittweise zu einem einzigartigen, naturnahen Baum- und Sträuchergarten. Schon nur aus praktischen Gründen, wegen der vielen Arbeit und speziell auch aus einer tiefen Überzeugung heraus, wird der Natur weitgehend freien Lauf gelassen. In der von Jeannot aufgestellten Wildtierkamera sind nebst Rehen, Füchsen, einem Dachs, auch der Iltis (Tier des Jahres 2024 von «Pro Natura») zu sehen. Sie hatten gar Junge. Dies dank den grossen Asthaufen und vielen Wasserstellen mit Fröschen und Kröten auf dem Gelände.

Jeannot Müller setzt sich zudem für die Erforschung, Zucht und den Schutz der heimischen, nachtaktiven Flusskrebse ein. Die Tüüfner Poscht hat über diverse Event-Bekanntmachungen und 2020 über die Flusskrebs-Station berichtet.

Werkzeuge abflammen

Als Einstieg in den heutigen Tageskurs zeigt uns Markus Allemann die Hauptwerkzeuge des Baumschneidens und -Pflegens. Es sind dies eine Vielzahl verschiedener, kleiner bis grosser Baumscheren, darunter ein interessantes Modell aus Japan und diverse Astsägen. Markus erklärt die Vor- und Nachteile der verschiedenen Modelle und wir dürfen sie einzeln in die Hand nehmen und spüren.

Nur mit «Ehrfurcht» dürfen wir auch die 40-jährige, persönliche Baumschere von Markus testen. Es ist ein teures Modell des Schweizer Herstellers Felco mit einem Rollgriff zur Schonung des Handgelenkes. Bei Felco-Scheren können seit jeher alle Teile demontiert und ersetzt werden; ein schönes Beispiel wie Nachhaltigkeit auch hier funktionieren kann.

Markus zeigt uns dann, wie eine Baumschere professionell geschliffen wird und welche Fehler man dabei vermeiden kann.

Damit keine allfälligen Krankheiten (v.a. Pilzsporen) von einem Garten in einen anderen verschleppt werden, behandelt er die Werkzeuge aller Teilnehmenden vor und nach dem Einsatz beidseitig mit einem Bunsenbrenner. Dies ist umweltschonender und effizienter als chemische Alternativen. Man tut jedoch gut daran die Metallteile zuerst abkühlen zu lassen, bevor man sie berührt.

Anbinden mit Weide

Bevor wir uns mit dem eigentlichen Baumschneiden befassen, zeigt uns Markus ein paar Optionen, um junge Bäume an Pfähle zu binden. Die Jungbäume sollen nach der Pflanzung möglichst ungestört und fest im Boden sitzend ihre feinen Haarwurzeln ausbilden können.

Kokosschnüre aus fernen Ländern verrotten zwar, aber sie brauchen viele Jahre dazu. Sie schneiden sich wo möglich gefährlich in junge Stammrinden ein, wenn sie nicht nach ein bis zwei Jahren gelockert oder entfernt werden.

Markus zeigt uns, wie wir Jungbäume mit einer heimischen Pflanze so an Pfähle binden können, dass sie knapp zwei Jahre straff festhalten, bevor die natürliche Halterung von selbst zerfällt. Auf drei Fotos ist zu erkennen, wie eine bewegliche Weidenrute um Stamm und Pfahl geschlungen (gezeigt an der Lieferwagen-Ladebrücke), dann dreimal satt um den dickeren Teil gedreht, einmal eingeschlauft und letztlich an beiden Enden abgeschnitten wird. Und es hält wirklich. Wir dürfen es alle selber ausprobieren.

Eine umweltfreundliche Alternative sind Hanfschnüre, die es in verschiedenen Stärken zu kaufen gibt. Sie verrotten ebenfalls in ein bis zwei Jahren.

Zuerst Schauen

Ein Grundsatz des Baumschneidens lautet: «Den Baum immer zuerst betrachten! Was sagt er uns?» Das ist allerdings leichter gesagt als getan.

Bevor man «richtig schauen» kann, muss man verstehen und bevor man verstehen kann, muss man erste Fachbegriffe beherrschen. Fangen wir ganz unten beim Baum an. Bei den Wurzeln von Obstbäumen spricht man von «Unterlage» auf die eine bestimmte Sorte gepfropft wird (durch Veredlung). Vielleicht haben Sie schon beobachtet, z.B. bei Spalier-Obstplantagen im Thurgau, wie teilweise dünne Stämmchen aus dem Boden ragen und sich darüber ein bedeutend dickerer Baumstamm entwickelt hat oder umgekehrt. Mit der Wahl der Wuchskraft der Unterlage steuert der Obstbauer die angestrebte Grösse und Form des künftigen Baumes. Man bedenke, dass bei einem Obstbaum das Volumen der Baumkrone im Boden als Wurzeln vorhanden sind, bzw. umgekehrt.

So unterscheiden wir grob in Hochstammbäume (Stammhöhe ab 180 cm), Halbstamm (ab 120 cm), Pyramide (ab 60 cm) und Spalier (Stammhöhe ab 40 cm). Der Stamm reicht vom Boden bis zu den ersten Leitästen.

Die Weiterführung des Stammes nach oben heisst Mitteltrieb und darüber (sozusagen der Spitz), der letztjährige Austrieb über dem Mitteltrieb, wird «Fortsetzung» genannt. Schenkt man diesen Unterscheidungen zu Beginn nur untergeordnete Bedeutung, wird sich dies später bitter rächen.

Markus übt geduldig mit uns vor einzelnen Bäumen. Drei (bis maximal 4 oder 5) Leitäste sind erwünscht. An diesen sollen sich möglichst Seitenäste und Fruchtholz bilden.

«Wie sieht es bei diesem Baum aus? Das erste Problem ist schon mal zu merken, ob es ein Zwetschgen-, Kirschen-, Birnen-, Apfel- oder welcher andere Baum es ist. Noch schwieriger wird es, wenn die Frage lautet: «Wie beurteilt ihr den jetzigen Zustand des Baumes und welche Schnittmassnahmen würdet ihr vorschlagen?»

Stehen lassen

Wir alle sind gekommen, um das Baumschneiden zu erlernen. Und da kommt der nächste Leitsatz von Markus: «In vielen Fällen ist KEIN Schnitt die bessere Lösung!»

Geradezu «kontra-intuitiv» ist der nächste: «Jeder Schnitt löst Wachstum aus.» Wer davon ausgeht, dass mit dem Schneiden eines Obstbaumes dieser grundsätzlich «in Schranken» gehalten werden kann, muss diese Überzeugung mächtig relativieren. Denn «es kommt wie immer drauf an…». Und ab hier wird es erst richtig anspruchsvoll, v.a. wenn man es mit Worten auf einem weissen Papier oder am Bildschirm erklären möchte.

Grundsätzlich stimmt es natürlich, dass durch das Schneiden eines Obstbaumes seine Form, Stabilität, der Fruchtansatz und sein «Jungbleiben», bzw. bei alten Bäumen die «Vergreisung» herausgezögert werden kann.

Markus fragt uns unentwegt, wie wir denn Schneiden würden. Beim ausgiebigen, gemeinsamen Betrachten eines Baumes machen wir Schülerinnen und Schüler Vorschläge. Diese gehen jedoch oft weit auseinander. Je nachdem wie man schaut und v.a. welche Grundkenntnisse der Gesetzmässigkeiten sowie die eigenen Erfahrungen, die man mitbringt, «sieht man anders» und beurteilt eine Situation unterschiedlich.

Schneiden, und wie?

Dank den Hinweisen und dem «theoretischen Durchspielen» der einzelnen Vorschläge nähern sich schliesslich die einzelnen Beurteilungen mehr und mehr an. Wir werden uns schrittweise einig und lernen ganz viel dabei. Irgendwie beginnen wir mit anderen Augen zu sehen und bald schon sprechen wir (zumindest ansatzweise) eine ähnliche Sprache wie der Profi. Wir unterscheiden einen «Erziehungsschnitt» von einem «Erhaltungs- oder Verjüngungsschnitt». Wir erinnern uns, dass «anschneiden» etwas anderes bedeutet als «abschneiden» oder «einkürzen» oder «ableiten». Und, dass alle diese verschiedenen Schnitte, je nach Zeitpunkt und Stelle am Baum völlig andere, gar gegenteilige Auswirkungen auf die künftige Entwicklung dieses Baumes haben werden. Es ist gleichzeitig faszinierend und fühlt sich (zumindest anfänglich) verwirrend, irreführend oder gar zermürbend an.

Nach einem, am offenen Feuer – von Jeannot Müller und seiner Tochter – zubereiteten, herrlichen Risotto mit frischem Thymian aus dem Garten, draussen am Mittagstisch, nehmen wir in Zweiergruppen einzelne Bäume unter die Säge, bzw. Schere. Nach dem eigenständigen Betrachten machen wir Markus Allemann noch kurz unsere Vorschläge, bevor wir unsere Leitern stellen und «endlich» mit Schneiden beginnen. Gegen 16 Uhr beurteilen wir, mit einem Apfel in der Hand, die frisch geschnittenen Bäume jeder Gruppe.

In der Zwischenzeit ist es wettermässig etwas wärmer geworden. Auf jeden Fall friert niemand mehr. Eher müde von den körperlichen Anstrengungen und der frischen Luft, nicht zuletzt von den vielen Informationen und Lernerfahrungen, zeigt sich Freude in den Gesichtern aller Beteiligten. Stehen doch einige der alten, oft wild gewachsenen und vergreisten Obstbäume nun «sichtbar verjüngt und ausgelichtet» da. Bevor wir uns auf den Heimweg machen, verteilen wir die heruntergeschnittenen Äste auf verschiedene Asthaufen, so dass sie dort ihre neue Aufgabe erfüllen werden und Markus flammt die Werkzeuge…

Unser grosser Dank geht an das WWF Regiobüro AR/AI-SG-TG  für die Organisation und an Jeannot Müller für seine Gastfreundschaft und das Vertrauen bezüglich seiner Bäume. Ein besonderes Dankeschön richten wie an unseren erfahrenen, überaus geduldigen und humorvollen Kursleiter Markus Alleman.

Top-Artikel

Top-Artikel

Anzeige

Anzeige

Gruengut-Animation2024-Mai

Nächste Veranstaltungen

Dienstag, 07.05.2024

Maibummel

Dienstag, 07.05.2024

Pro Juventute: Mütter- und Väterberatung

Aktuelles

×
× Event Bild

×
×

Durchsuchen Sie unsere 7201 Artikel

Wetterprognose Gemeinde Teufen

HEUTE

07.05.24 01:0007.05.24 02:0007.05.24 03:0007.05.24 04:0007.05.24 05:00
8.7°C8.4°C8.2°C7.9°C7.9°C
WettericonWettericonWettericonWettericonWettericon

MORGEN

08.05.24 05:0008.05.24 09:0008.05.24 12:0008.05.24 15:0008.05.24 20:00
7.2°C8.8°C10.3°C11.5°C9.2°C
WettericonWettericonWettericonWettericonWettericon