Aus dem Fotoalbum der Familie Ladner mit den Kindheitserinnerungen von Peter Dübi
Wie sehr sich die Zeiten doch geändert haben! Ein unglaublicher sozialer Wandel hat sich innerhalb der letzten sechs Jahrzehnte vollzogen. Einmal mehr wird es einem bewusst beim Lesen dieser Aufzeichnungen und dem Betrachten der Fotos. Wir danken Peter Dübi für die Bereitstellung dieser wertvollen Dokumente. Erika Preisig
Von Peter Dübi*
Im Jahr 1952 zog ich mit meinen Eltern von Nesslau SG nach Teufen ins Bürgerheim. Meine Mutter Barbara hatte 1951, nach dem frühen Tuberkulose-Tod meines leiblichen Vaters, Felix Ladner geheiratet. Barbara war Arbeitslehrerin und Felix gelernter Landwirt; sie brachten gewiss einige Voraussetzungen für die Aufgabe mit, aber da gab es auch viele neue Herausforderungen. Hilfreich war wohl, dass Felix selber im Bürgerheim Nesslau aufgewachsen war.
Ich trat in die 2. Primarklasse ein und fühlte mich rasch gut aufgenommen. Das war angesichts meiner Körpergrösse (einiges über Appenzeller-Norm), rotem Haarschopf und fremdem Dialekt zu der Zeit nicht selbstverständlich. Im Dorfschulhaus, bei Lehrer Rohner, herrschte Ordnung (autoritär!) und es roch nach geölten Böden. Ganz am Anfang schrieben wir noch quietschend auf Schiefertafeln.
Wie eine grosse Familie
Das Armenhaus beherbergte damals 40–50 Insassen beiderlei Geschlechts. Die Gründe für deren Einsitz waren so vielfältig wie die Gesellschaft: Armut, Behinderung, Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, mangelnde Schul- oder Berufsbildung, Verhaltensstörung.
Das Leben spielte sich in der Art einer Grossfamilie ab. Jeder half nach Möglichkeit im Betrieb mit: Küche, Haushalt, Stall, Brennholzbetrieb, Mosterei, Landwirtschaft, Hühnerstall, Wäscherei, Flickerei, Schuhmacherei, Schreinerei, Garten, Kehrichtabfuhr etc. Man war praktisch autonom; Brot wurde zugekauft, eine Näherin half teilzeitlich. Im Herbst wurden Sauerkraut und Eier konserviert, im Winter wurde geschlachtet. Das Gemüse lagerte in der separaten Gemüsehütte, in Sand eingeschlagen. Aus dem Trester vom Mosten fertigte man «Tresterkuchen» zum Heizen und als Viehfutter.
Das Betreuungsteam bestand aus meinen Eltern, einem Dienstmädchen, einem Stallknecht, einem Fuhrknecht. Es wurde nebst der eigenen Arbeit gefordert, die Heimbewohner geschickt zu integrieren und zu motivieren. Meine Mutter betete vor jedem Essen konsequent im Speisesaal und wünschte abends allen Gutenacht. Unsere Familie nahm das Essen zusammen mit den Angestellten ein; natürlich wohnten wir auch im Bürgerheim.
Für uns war das echt ein 24h-Job. Ich kann mich nicht erinnern, mit meinen Eltern je in die Ferien gefahren zu sein. Für mich war das hier geschilderte Leben normal. Rückblickend betrachte ich die Zeit als eine enorme Bereicherung für meine Entwicklung (heute spräche man von Sozialkompetenz etc.). Ich konnte mir auf dem Betrieb in den obgenannten Arbeitsbereichen äusserst vielseitige Kenntnisse erwerben und den Umgang mit den unterschiedlichen Charakteren der Mitbewohner üben.
Ein frischer Wind hält Einzug
Das Album meiner Eltern ruft mir in Erinnerung, dass sie etliche Neuerungen einführen wollten und konnten, natürlich mit der wohlwollenden Unterstützung der zuständigen Behörde. Der Gartenbau wurde stark intensiviert, denn im Dorf auf dieser Höhenlage gab es zu jener Zeit nur wenige Nutzgärten. Ein Kühlraum wurde eingebaut, die Waschräume wurden modernisiert und die Zentralheizung erweitert.
Mein Vater baute für den Holzschlag Seilbahnen und konnte für die Transporte ein Unimog-Fahrzeug beschaffen. Es war das erste dieser Art in der Gemeinde und entsprechend «berühmt». Die «Armehüsler», wie sie trotz des neuen Namens «Bürgerheim» noch lange benannt wurden, besorgten damit auf dem ganzen Gemeindegebiet die Gassenabfuhr und das Pfaden und Schneeräumen; sie benutzten es für den Obst- und Holztransport etc. Mein Vater und ich wirkten oft als Chauffeure, auch beim neuen Krankenauto, das die Gemeinde anschaffte.
Allerlei Kostgänger
Natürlich erlebten wir in den rund dreizehn Jahren manche mehr oder weniger lustige Episoden. Den «Schniider Tobler» holten wir ab und zu am Sonntag mit dem Leiterwägeli im Wirtshaus zum Bächli ab, weil ihn die Beine aus unerfindlichen Gründen nicht mehr tragen wollten.
Vater Ladner entdeckte durch reinen Zufall, dass jemand zuoberst im Estrich des zundertrockenen Holzgebäudes Feuer gelegt hatte.
Eines Sonntags mussten die Schweine aus der Güllegrube gerettet werden, da sie durch den Boden gebrochen waren.
Frau X. sprang lebensmüde aus dem Fenster im zweiten Stock; ihr Nachthemd wirkte wie ein Fallschirm und rettete ihr das Leben.
Herr Y. war betrunken und randalierte; als der herbeigerufene Dorfpolizist anrückte, fand man ihn nach langem Suchen im hauseigenen Arrestlokal friedlich schlafend. Schlüssel drehen… Und so weiter.
Nachtrag
Barbara und Felix Ladner zogen nach der Zeit in Teufen in ihr neu gebautes Haus in Barbaras Heimatdorf Almens (Domleschg), wo den beiden, nach weiteren Arbeitsjahren (im Landwirtschaftsbetrieb der Strafanstalt Realta und als Handarbeitslehrerin) eine lange und glückliche Pensionszeit beschieden war. Im Album eingeklebt gibt es einen einfühlsamen Bildbericht aus jenen Jahren, erschienen in einer leider unbekannten Zeitschrift. Dieser Beitrag folgt in der Mai-Ausgabe (2. Teil)
*Peter Dübi
geb. 1944, besuchte nach der Schulzeit in Teufen die Kantonsschule St.Gallen. 1968 schloss er an der ETH als dipl. Bauingenieur ab. Nach der Heirat mit seiner Jugendfreundin, der Teufnerin Margrit Alder (Bündt), wanderte er nach Kanada aus, wo das älteste ihrer vier Kinder zur Welt kam.
Nach ihrer Rückkehr, diesmal ins Bernbiet, nach Burgdorf, arbeitete Peter Dübi in verschiedenen Büros und war von 1989 bis zu seiner Pensionierung Vizedirektor der Emmental-Burgdorf-Thun-Bahn (EBT).