Hinweis: Eine Liste der anstehenden Bauprojekte des Kantons finden Sie ganz unten.
Bodenplatten aus verleimten Jeansfasern. Alte Kaffeebecher statt Gips in der Trockenbauwand. Küchenmöbel-Beschichtung aus Kaffeesatz. Geisternetze aus dem Meer in der Küchenabdeckung. Oder «Dübendorfer Marmor» aus zusammengeschmolzenen PET-Flaschen. Diese Produkte erwartet man nicht unbedingt bei der Ausserrhoder Bauwirtschaftskonferenz im Landhaus. Aber sie passen perfekt zum Thema des Abends, zu dem Kanton und Gewerbe AR geladen haben: Kreislaufwirtschaft. Das Inputreferat hält jemand, der sich in diesem Gebiet auskennt: Enrico Marchesi. Er gehört zum NEST-Team der Empa. Die zweite Abkürzung ist bekannt und rasch erklärt. Empa bedeutet «Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt». Bei «NEST» wird es etwas komplizierter. Das steht für «Next Evolution in Sustainable Building», auf Deutsch «Der nächste Entwicklungsprozess des nachhaltigen Bauens». Ziemlich klobig. Enrico Marchesi selbst formuliert es deshalb anders: «Das NEST ist eine Art Bauspielplatz. Hier testen wir unter möglichst realen Bedingungen, was möglich ist.»
Hier wurde nichts geschäumt, geleimt oder geklebt. Alles besteht aus trockenen Steckverbindungen.
Dieser «Bauspielplatz» ist ein einzigartiges Gebäude in Dübendorf. Es besteht aus elf unabhängigen «Units», oder Einheiten, die sich mit je einem Schwerpunkt der Kreislaufwirtschaft im Bau auseinandersetzen. «Mit ist wichtig zu betonen, dass wir als Auftraggeber dabei zu 99.5 Prozent an die Realkundschaft herankommen. Alles, was hier gebaut wurde, entspricht den geltenden Bauvorschriften und wurde regulär bewilligt. Die fehlenden 0.5 Prozent betreffen die Mängelrüge. Die gibt es bei uns nicht.» Damit verfolgt NEST das Ziel, Innovationen zu fördern. «Da müssen Fehler erlaubt sein.»
Die «Units» werden auch genutzt. Zum Beispiel als Studenten-WG. Der «ultimative Härtetest», sagt Enrico Marchesi. Das ist natürlich ein Scherz; die Überprüfung unter realen Bedingungen ist aber Teil des Konzepts. Und falls die Wohnung den Studenten dann doch nicht standhielte, wäre das nur halb so schlimm. Denn: «Sie wurde so konstruiert, dass sie von zwei Leuten mit einem Akkuschrauber komplett auseinandergenommen werden kann. Hier wurde nichts geschäumt, geleimt oder geklebt. Alles besteht aus trockenen Steckverbindungen.» Es kommt sogar noch besser: Die komplette Wohneinheit – inkl. Konstruktion – erreicht einen «Kreislaufscore» von 96 Prozent. Das heisst: Fast alles, was hier verbaut wurde, war schon einmal irgendwo im Einsatz. «Und dass wir uns richtig verstehen: Wir sprechen hier nicht von Recycling. Recycling ist nicht die Lösung.»
«Wir müssen uns bewegen»
Enrico Marchesi beginnt mit etwas Linguistik. Er will wissen: Woher stammt eigentlich der Begriff Abfall? Bei seiner Recherche stiess er auf «Zedlers grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste» aus dem Jahr 1731. Darin kommt der Begriff Abfall bereits vor. «Allerdings hat er da noch eine etwas andere Bedeutung. Es geht eher um das ‘Abfallen vom Glauben’.» Erst in der achten Auflage von «Meyers Lexikon» von 1936 hat das Wort Abfall die Bedeutung, die wir ihm heute zuschreiben: «Abfälle (…) aus Haushalt und Industrie müssen aus wirtschaftlichen, räumlichen und gesundheitlichen Gründen beseitigt werden.»
Klar, dafür braucht es radikale Anpassungen. Aber wir sind überzeugt, dass das auch eine grosse Chance ist.
Dieser historische Kontext bringt Enrico Marchesi zur Frage: Gehört der Abfall wirklich inhärent zur menschlichen Existenz? Geht es einfach nicht anders? «Wir wissen, es gibt einen anderen Weg.» Das bedeutet: Wegkommen von der linearen Wirtschaft. Dieser Begriff beschreibt das heutige Wirtschaftssystem. Ressourcen werden abgebaut, Produkte hergestellt und dann verbraucht oder konsumiert. Am Ende steht die Entsorgung. Das Konzept der Kreislaufwirtschaft will das ändern. «Klar, dafür braucht es radikale Anpassungen. Aber wir sind überzeugt, dass das auch eine grosse Chance ist.»
Dass der Fokus dabei auf der Baubranche liegt, ist kein Zufall. Sie ist der grösste Einzelsektor und allein die Zementproduktion ist für rund 8 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. «Wir müssen uns also bewegen. Das heisst aber nicht, dass wir gar keinen Beton mehr verwenden dürfen. Beton ist ein Baustoff, der Einzigartiges leistet. Die Frage ist, was für Beton man nimmt und wie man ihn einsetzt.» Natürlich hat er dafür auch ein Beispiel parat: die Unit «Step 2» des NEST. Hier wurde eine Betondecke verbaut, deren Wabenstruktur von einem Computerprogramm errechnet wurde. Die Schalung liess ein KMU aus dem Aargau dann von einem 3D-Drucker «printen». «Verbaut wurde aber herkömmlicher Recycling-Beton.»
Niemand will in einem schönen Neubau ein 40 Jahre altes Fenster.
Dank des intelligenten Designs – die Decke ist nur dort dick, wo sie auch stark belastet wird – konnte im Vergleich zu einer herkömmlichen Betondecke rund 50 Prozent Beton eingespart werden. Ausserdem hilft die Wabenstruktur beim Kühlen der Räume, da sie über eine grössere Oberfläche verfügt. Mit diesem Beispiel zeigt Enrico Marchesi die Grundsätze der Kreislaufwirtschaft auf. Erstens: Im Zentrum steht die Planung, nicht das Material. Zweitens: Vermeiden bzw. Sparen ist das Wichtigste. Was man nicht baut, braucht auch kein Material und keine Energie. Drittens: Verlängern und Wiederverwerten sind deutlich besser als recyclieren. Denn das Recycling ist energieintensiv und oft sehr teuer.
Haben wir es kapiert?
Martin Huber redet nicht um den heissen Brei herum: «In unserer Branche spielt die Kreislaufwirtschaft noch eine sehr kleine Rolle. Niemand will in einem schönen Neubau ein 40 Jahre altes Fenster. Und für uns wäre das nur schon wegen der Garantien schwierig.» Er hat die Huber Fenster AG in Herisau 40 Jahre lang geführt, ist heute noch bei der Divario AG (Insektenschutz) tätig und hat mit seiner Frau Jacqueline ein Hilfswerk in der Ukraine aufgebaut. Jetzt steht er im Bauwirtschaftskonferenz-Talk Enrico Marchesi und Olaf Holstein gegenüber. Letztere ist Geschäftsführer des Unternehmernetzwerks «Next Generation», das sich ebenfalls für Kreislaufwirtschaft im Baugewerbe einsetzt. Er hat Verständnis für die unternehmerischen Herausforderungen und Zwänge. «Deshalb braucht es Innovation. Und neue Systeme. Ein Ansatz sind Lizenz-Modelle. Die Fenster könnten im Besitz des Herstellers bleiben. Oder aber, der Kunde erhält bei der Rückgabe etwas zurück.» Dem stimmt Enrico Marchesi zu. Er sagt auch: «Innovation ist nur Innovation, wenn sie sich verkaufen lässt. Aber ich sehe sehr viele wirklich gut funktionierende Business-Modelle in diesem Bereich.»
Ich vertraue auf die Innovationskraft unserer KMU.
Die Abschlussfrage des Moderators Christof Chapuis (Präsidenten Gewerbe AR) lautet: Wo sollten wir in 40 Jahren stehen? Olaf Holsteins Antwort: «Ich vertraue auf die Innovationskraft unserer KMU. Wenn wir in diesem Bereich eine Führungsrolle übernehmen, ist das eine grosse Chance für unseren Wirtschaftsstandort.» Martin Huber: «Wir werden auch in 40 Jahren keine Insel sein. Wir müssen deshalb auch global nach Lösungen suchen.» Und Enrico Marchesi: «Ich hoffe, wir können dann sagen: Wir haben es kapiert und getan, was wir konnten.»
Bauprojekte des Kantons
Teil der Bauwirtschaftskonferenz ist ein Ausblick der anstehenden Bauprojekte des Kantons. Urs Kast (Stv. Kantonsingenieur) gab einen Überblick zu den Strassenbauprojekten im kommenden Jahr. Seine Liste umfasst zwei Projekte in Urnäsch (Unghürbücke / Egglibachbrücke), und je eines in Schwellbrunn (im Rank – Hirschen), in Waldstatt (Fussgänger Böhl), in Teufen (Fussgänger Rütihofstr.), in Speicher (Fussgänger Vögelinsegg), in Trogen (Landsgemeindeplatz), in Rehetobel (Zittäfeli), in Grub (Riemen – Rüti), in Wolfhalden (Unterlindenberg) und in Reute (Wolftobelbrücke). Dazu kommt der behindertengerechte Umbau von 10 bis 20 Bushaltestellen.
Beim Wasserbau sind es einige Projekte weniger. Abteilungsleiter Michael Sonderegger zählt auf: Chlebbach in Herisau (2 x Hochwasserschutz), der Walkenbach in Herisau (Hochwasserschutz), der Hörlibach in Teufen (Hochwasserschutz), der Buechschwendibach in Rehetobel (Hochwasserschutz und Revitalisierung / bereits in Arbeit) und der Ochsenbach in Walzenhausen (Hochwasserschutz und Revitalisierung).
Den Abschluss machte Kantonsbaumeister Jürg Schweizer. Er sprach von den anstehenden Projekten im Hochbau. Er erwähnte das Berufsbildungszentrums in Herisau und die Aufstockung und Sanierung des Rehabilitationszentrums in Lutzenberg – aber auch die geplante Realisierung des Strassenverkehrs- und Sicherheitszentrums in Gmünden. Während in Lutzenberg bereits gebaut wird, müssen die Projekte Gmünden und BBZ erst noch vors Volk. Die Abstimmungen sind für des zweite Quartal 2026 (Gmünden) bzw. vierte Quartal 2027 (BBZ) geplant.
Auch Regierungsrat Dölf Biasotto (Bau und Volkswirtschaft) war anwesend, und richtete zum Abschluss der Veranstaltung einige Worte an die Anwesenden. Seine Botschaft war dabei überwiegend positiv: «Ich sehe bei meiner Tochter und meinem Sohn, dass die nächste Generation anders denkt als wir. Das Bewusstsein für die Wiederverwertung ist bei ihnen schon sehr gross. Ich bin deshalb nicht pessimistisch.»