Kultur in der Konservendose

10.11.2025 | Timo Züst

Selten passt der Titel einer Veranstaltung so gut zum Setting: Das «Kulturfenster» findet im Seminarraum Churfirstenblick statt. Durch die grossen, nach Süden ausgerichteten Fenster sieht man an diesem wolkenlosen Herbsttag sehr weit. Und natürlich auf die Churfisten herunter. Der Blick der Anwesenden ist aber hauptsächlich nach Norden gerichtet – auf die Referenten und Musikanten des «Kulturfensters». Sie erzählen vom «Idiotikon», vom Archivieren, vom Landschaftsschutz und von alten Musiknoten.

Einer trägt keine Wanderuniform. Mit seinen schönen Lederschuhen, den olivgrünen Chinos und der Aktentasche fällt er auf. An diesem sonnigen Herbstmorgen ist der Zug der Appenzeller Bahnen in Richtung Urnäsch fast bis auf den letzten Platz mit Ausflüglern gefüllt; schwere Schuhe, grelle Funktionskleidung, sportliche Sonnenbrillen, übergrosse Gleitschirm-Rucksäcke. Und irgendwo dazwischen sitzt Martin Graf mit seiner Aktentasche. Auch er ist unterwegs in Richtung Höhe – er hat einen Termin auf dem Gipfel. Auf dem Gipfel, den er später als der «vermutlich schönste Berg der Welt» bezeichnen wird. Martin Graf ist Redaktor beim Schweizerischen Idiotikon und einer der vier Referenten des heutigen «Kulturfensters».

Dieser Anlass findet jedes Jahr auf dem Säntis statt, organisiert wird er vom Verein «Kultur am Säntis». Dessen Präsident ist ein Neo-Niederteufner: Daniel Bösch ist mit seiner Frau Cornelia vor zweieinhalb Jahren in die Lustmühle gezogen. Und während der Begrüssung im Seminarraum Churfistenblick steht neben ihm auch ein «Ur-Teufner»: Hans Höhener. Er wird heute moderieren, wie immer. «Mittlerweile gehöre ich ja sozusagen zum Inventar dieser Veranstaltung.» Als Gründungsmitglied ist er seit der ersten Durchführung im Jahr 2007 dabei und als ehemaliger Verwaltungsratspräsident der Säntis-Schwebebahn AG (1989 bis 2016) passt er sowieso sehr gut hierher. Später, beim Kaffee nach dem Mittagessen, erzählt er von der ersten Sitzung im Restaurant Passhöhe. «Das waren Peter Roth, Max Nadig, Alois Ebneter und ich. Peter Roth war bereit, einiges in die Kulturförderung der Region zu investieren. Aber nur unter der Bedingung, dass die Regionen dabei zusammenarbeiten. Also Inner- und Ausserrhoden sowie das Toggenburg.» Das verbindende Element dieser drei? Der Säntis. Logisch also, dass es der Berg auch in den Vereinsnamen geschafft hat. Und seither wird hier oben jährlich das «Kulturfenster» organisiert, mit Themen, die alle drei Regionen betreffen. An diesem Samstag geht es ums Konservieren. «Was das mit Kultur zu tun hat? Zuerst denkt man natürlich an Konservendosen oder Eingemachtes. Aber das Konservieren, das Erhalten für zukünftige Generationen, betrifft eben auch die Kultur – und schafft Zukunft», sagt Daniel Bösch vor dem ersten Referat.

Vom Chlismä und Zangis

«Das Wort ‘Idiotikon’ ist eigentlich deutlich älter als der ‘Idiot’. Diesen Begriff haben wir aus dem Englischen übernommen. Nur haben wir jetzt halt Pech, dass der ‘Idiot’ deutlich populärer als das ‘Idiotikon’ geworden ist.» Martin Graf hält hier nicht sein erstes Referat und er weiss, dass der Name des «Schweizerdeutschen Wörterbuchs» immer interessiert. Also erklärt er: Es geht auf das griechische Wort «idios» für «eigen» oder «privat» zurück. Das «Idiotikon» ist also eine Sammlung von Begriffen, die einer bestimmten Landschaft «zu eigen» sind – in diesem Fall der Dialekt der deutschsprachigen Schweiz. Inzwischen sind 16 Bände davon erschienen, ein 17. ist in Arbeit und soll um das Jahr 2032 erscheinen. Insgesamt sind darin rund 150’000 Begriffe erfasst. «Dabei handelt es sich grossmehrheitlich, zu rund drei Vierteln, um historischen Wortschatz – also um Begriffe vor dem 18. oder gar 16. Jahrhundert.» Dabei geht es dem «Idiotikon» nicht nur darum, die Wörter zu «übersetzen», sondern vor allem auch um ihren etymologischen Ursprung. «Wir machen aber keine Sprachpflege und bieten auch keine Mundart-Kurse an. Unsere Aufgabe ist das Dokumentieren, ohne Bewertung. Dazu gehört auch die Jugendsprache.» Ausserdem, so Martin Graf, sei man schon vor 200 Jahren, als die Geschichte des Idiotikons begann, davon überzeugt gewesen, dass «es mit der Sprache bergab geht». «Man wollte deshalb unbedingt retten, was noch zu retten ist.»

Martin Graf erzählt von seiner Arbeit beim Schweizerischen Idiotikon.

Diese Anstrengungen nahmen dann um 1950 kreative Formen an. Dank eines über die Medien publizierten Aufrufs zur Mitarbeit wurde ein grosses Korrespondenten-Netzwerk aufgebaut. Diese schickten ganze Stapel an Zetteln mit Mundart-Begriffen an die Redaktion in Zürich. Dort wurden sie gesichtet, sortiert und falls möglich ins Wörterbuch aufgenommen. «Grundsätzlich funktioniert das auch heute noch so. Wir bekommen immer wieder neue Begriffe und arbeiten uns Schritt für Schritt durch die ‘Zettel’.» Natürlich hat die Digitalisierung aber auch das Idiotikon erreicht. So ist das Wörterbuch inzwischen online abrufbar und der «Verein für das Schweizerdeutsche Wörterbuch» betreut auch andere Projekte: familiennamen.ch oder ortsnamen.ch zum Beispiel. Und was für Wörter mag ein Redaktor des Schweizerischen Idiotikons besonders? «Den ‘Zangi’ finde ich ganz schön. Das bedeutet soviel wie Streithals und wird vor allem im der Zentralschweiz benutzt. Oder das ‘Chlismä’ für flüstern. Faszinierend finde ich es auch, wenn ein Wort, das sehr präsent ist, ganz plötzlich stirbt. Das gilt zum Beispiel für ‘watz’ im Thurgau. Das heisst ‘scharf sein auf etwas’.»

Bewerten und Archivieren

Um Wörter und deren Ursprung geht es auch beim musikalischen Intermezzo – allerdings nur kurz. «Baazlis Franz» stellt seine «Musigkollege» vor und verrät dabei auch deren Spitznamen. Dass er selbst «Manser» zum Geschlecht heisst, will er eigentlich lieber für sich behalten. Aber Hans Höhener macht ihm da einen Strich durch die Rechnung und verrät das «Geheimnis» beim Anmoderieren des nächsten Referenten: Sandro Frefel. Er ist Landesarchivar von Appenzell Innerrhoden und gibt einen Einblick in seine Arbeit. «Wir gehen immer nach folgendem Muster vor: beraten, bewerten, erschliessen, erhalten, vermitteln.» Der wichtigste Schritt dabei: das Bewerten. «Wir gehen davon aus, dass rund 10 bis 20 Prozent der Daten, die in öffentlichen Verwaltungen generiert werden, tatsächlich archiviert werden. Mehr wäre gar nicht möglich.»

Die Auswahl der «archivierungswürdigen» Dokumente ist deshalb die Königsdisziplin seiner Arbeit. Er zeigt exemplarisch auch einige spannende «Archivarien». Zum Beispiel das Notizblatt einer Verkehrszählung an der Steinegg-Kreuzung vom 3. August 1928, das Foto (auf Glas) vom Neubau der Kirchen in Appenzell von 1905 oder einen schwarz-weiss Film vom Sängerfest von 1936 – leider ohne Ton. «Es gibt keine klaren Vorgaben dafür, was wir archivieren müssen oder sollten. Entscheidend sind für uns Kriterien wie das Alter, unsere Archivtradition und der Kontext. Aber auch Kuriositäten schaffen es ins Archiv.» So hütet das Landesarchiv zum Beispiel die Soldtasche von General Henri Guisan (2. WK). «Sie hat eigentlich nichts mit Innerrhoden zu tun und kam als Schenkung privat zu uns. Aber sie ist auf jeden Fall sehr schön und archiv-würdig.»

Aber wie lange soll ein Archiv denn halten? «Ich antworte jeweils ‘ewig’. Aber was heisst das schon? Wir geben uns auf jeden Fall grösste Mühe, unsere Inhalte für zukünftige Generationen sicher zu verwahren.» Dazu gehören bei den physischen Archivarien eine konstante Temperatur (16 bis 18 Grad) und Luftfeuchtigkeit (40 bis 60 %). Etwas komplizierter ist es bei den digitalisierten Daten. «Wenn man sich damit beschäftigt und realisiert, wie leicht sie zu manipulieren sin, kann man schon fast Panik bekommen. Aber auch hier gilt: Wenn man einige Regeln beachtet, ist das Archiv ziemlich sicher.» Dazu gehören die mehrfache Spiegelung auf verschiedenen Datenträgern, die richtigen Dateiformate und kluge digitale Kontrollsysteme. Aber: So schön wie da silberne Landbuch aus dem 15. Jahrhundert wird eine PDF-Datei wohl nie sein.

Landschaft und Musik

Auch am Nachmittag geht es ums Konservieren – von Natur und Musik. Robert Meier ist Geschäftsführer von «ARNAL», dem Büro für Natur und Landschaft AG. Er fängt bei «Betty Bossi» und den herkömmlichen Methoden für Konservieren von Nahrung an. «Die Frage ist: Hat das wirklich Betty Bossi erfunden oder war es nicht vielleicht doch die Natur?» Mit Beispielen wie Versteinerung bzw. geologischen Ablagerungen oder Moor- und Gletscherleichen macht er deutlich, dass die Natur der fiktiven «Küchen-Königin» wohl ein paar Schritte voraus war. Dabei widmet er sich thematisch insbesondere den Moorlandschaften, deren schweizweiter Schutz auf die Rothenthurm-Initiative von 1987 zurückgeht. Das macht auch Sinn, denn rund um die Schwägalp liegt eines dieser «Moore von nationaler Bedeutung». «Deshalb entstand auch die Idee des Naturerlebnispark Säntis. Im Dialog mit der Säntis-Schwebebahn AG kam man zum Konsens, dass eine intakte Natur auch dem Tourismus dient.» Aber Robert Meier kümmert sich nicht nur um die Erhaltung von Natur, sondern auch von Baukultur. «Speziell dort merkt man, dass das immer eine subjektive Frage ist. Als es zum Beispiel um die Säntis-Bergstation ging – viele nenne sie ja die ‘Kehrichtstation auf dem Berg’ –, dachte ich am Anfang überhaupt nicht daran, ob sie schutzwürdig sei. Aber natürlich ist das ein ziemlich einzigartiger Bau, inklusive der seltenen Plastikfassade.» Deshalb werde diese Frage nun auf nationaler Ebne abgeklärt. Auch hier wird also «bewertet». Genauso wie bei der Musik. Darüber spricht Barbara Betschart, Geschäftsführerin des Roothuus Gonten. Das «Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik» verfügt über einen riesigen Bestand alter Stücke und Notensammlungen, die es zu sichten, ordnen und archivieren gilt. In ihrem Abschlussreferat erzählt sie von dieser aufwendigen und herausfordernden Arbeit.

Den Abschluss des «Kulturfensters 2025» bildet eine Podiumsdiskussion. Sie fällt allerdings eher kurz aus, da schon bald die letzte Talfahrt ansteht. Diese will niemand verspassen – egal, ob man bei der Passhöhe dann nach Norden oder Süden abbiegt.

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