Sepp Zurmühle
Herr Plüss, so möchte er genannt werden, sitzt am Pult in seinem Zimmer. Vom ersten Moment an faszinieren die hellblauen, leuchtenden Augen und das Strahlen im Gesicht des Jubilars. Was er aus seinem Leben erzählt und wie er kleinste Verrichtungen im Alltag trotz allen Einschränkungen noch selber meistert, ist aussergewöhnlich.
Zusammen mit seinem Zwillingsbruder Elios kam Eros Plüss im Tessin zur Welt. Im frühen Säuglingsalter wurde bei ihm Kinderlähmung festgestellt. Sein Bruder blieb gesund. Der 8 Jahre ältere Bruder starb später bereits mit 52. Vater Walter kam aus Vordemwald (AG), Mutter Guiarina war Italienerin.
Vor 80 Jahren gab es noch kaum Institutionen, die auf Bedürfnisse von teilgelähmten Kindern mit Deformationen an Beinen und Händen ausgerichtet waren. Mit 5 kam der kleine Eros ins Schulheim Kronbühl (Wittenbach). «Dort gefiel es mir gut. Ich habe Lesen und Schreiben gelernt, auch Rechnen – was ich nicht so gut konnte – und vieles, was mir bis heute sehr nützlich ist. Im Schulheim habe ich nebst Strenge vor allem viel Liebe gespürt, und diese trägt mich durchs ganze Leben.»
Eros wurde älter und die Tage im Schulheim waren gezählt. «Damals litt ich unter dem Wegzug aus meinem Zuhause und bat den Herrgott darum, einen Platz zu erhalten, an dem ich für immer bleiben darf». Dieser wurde am 14. August vor 61 Jahren in Rehetobel gefunden.
Seit 1954 im Waldheim
Bis 1975 blieb Herr Plüss in Rehetobel. Mit den Notbetten gerechnet, lebten bis 52 Bewohner (alle männlich) im Heim. Herr Plüss schlief im grossen Saal mit 11 Betten. Weil er einen leichten Schlaf hat, übernahm er die Funktion einer damals noch nicht existierenden Nachtwache und läutete bei Bedarf die Glocke zum Heimleiter.
Während Jahrzehnten unterstützte er das Betreuungs-Team im Rahmen seiner Möglichkeiten: Waschen, Zähne putzen, «das ganze Haus rasieren» …
Mit 40 zügelte er nach Teufen ins Haus Eben-Ezer. Dort lebten zunehmend auch Bewohnerinnen, und er bekam ein kleines Einzelzimmer. Sowohl bei den Bewohnern wie beim Personal bevorzugt Herr Plüss eine gemischte Zusammensetzung.
«Der persönliche Umgang ist einfach besser», meint er. «In früheren Jahren konnte ich noch laufen, auch Treppen, doch dann merkte ich, dass mich die pflegerischen Handreichungen zu sehr anstrengten. Ich rasiere mich jedoch noch täglich selber.»
1990 bekam Herr Plüss den ersten Elektro-Rollstuhl und lernte das Fahren mit diesem modernen Gefährt. Bis nach Niederteufen war er damals unterwegs und holte beim Arzt Medikamente fürs Heim.
Normalerweise liebt Herr Plüss eher das Ältere und Traditionelle und weniger das Moderne. Beim Fahrzeug macht er eine Ausnahme und schmunzelt übers ganze Gesicht bei dieser Feststellung.
Seit 10 Jahren bewohnt Herr Plüss ein Zimmer in der Wohngruppe Eiche im neugebauten Wohnheim Schönenbüel. Viele Bilder hängen an der Wand. «Ich fühle mich hier sehr wohl, werde geschätzt und kann noch kleine Ämtli besorgen. So hole ich morgens die Post und verteile sie. Sehr gerne studiere ich das TVProgramm, sehe fern und höre Radio».
Respekt und Menschlichkeit
Herr Plüss liebt Menschen und den Kontakt zu ihnen. Respekt ist für ihn wichtig. Vor vielen Jahren fühlte er sich als Mensch zu wenig ernst genommen und konnte mit dem damaligen Heimleiter erwirken, dass er fortan nur noch mit «Herr Plüss» angesprochen wird. Sofort habe er eine positive Veränderung festgestellt.
Gerne fährt er heute noch mit seinem Rollstuhl ins Dorf und macht Besorgungen. «Ich muss aber ein klares Ziel haben und fahre nicht einfach so in der Gegend herum».
Gerne besucht er im Bächli und im Lindenhügel alte Bekannte. Er liebt es, von Passanten im Dorf angesprochen zu werden. Sein Bruder ruft ihn jede Woche zweimal aus Sydney an, was ihn besonders freut.
Für das Foto will sich Herr Plüss vorher kämmen, er sei nämlich eitel. Dazu scheut er keinen Aufwand. Mit Hilfe eines Metallböckleins rangelt er sich vom Stuhl über den Boden kriechend auf den Hocker beim Spiegel. Nur mit allergrösster Anstrengung kann er sich jeweils hochheben, auch in den Rollstuhl, in dem er noch selber Platz nehmen kann.
Eine Begegnung mit Herr Plüss berührt und beindruckt gleichermassen.
Eros Plüss
Geboren: 4. Sept. 1935 in Viganello/ Lugano
Zwillingsbruder: Elios Plüss, Sydney
Lieblingsessen: Z’morge mit Butter, Konfi und Kaffee
Lieblingsgetränk: Sinalco (nur auswärts)
Musikvorlieben: Volkstümlich und Schlager
Lektüre: Texte von Pfarrer Lukas Hohl, allmorgendlich