Ein Krisenfilm

21.01.2020 | Timo Züst
Paths_of_Life (1)
Drehvorbereitung mit der Protagonistin Sólveig Katrín Jónsdóttir. Foto: zVg

Timo Züst

«Being there – Da sein» war der letzte Film des Teufners Thomas Lüchinger. Und er hat ihn in der Dokumentarfilmszene bekannt gemacht. Dieses Wochenende feiert nun sein nächstes Projekt Weltpremiere in Solothurn. «Paths of Life» ist ein Film über eine durch und durch menschliche Erfahrung: Das Bewältigen einer grossen Krise.

Es ist ein ruhiger Einstieg. Die Kamera schaut von oben auf eine kleine Brücke. Sie ist schneebedeckt. Genau wie die Flussufer. Das gleichmässig fliessende Wasser wirkt im Kontrast dazu fast schwarz. Nach einigen Sekunden erscheint eine Person. Mit gleichmässigen Schritten überquert sie zum sphärischen Soundtrack die Brücke. Dabei wird rechts und links von ihr der Filmtitel eingeblendet: «Paths of Life». Der Titel von Thomas Lüchingers neustem Werk. Der Dokumentarfilm feiert dieses Wochenende Weltpremiere – an den Solothurner Filmtagen. Anschliessend folgen weitere Festivals in den USA, Wien und Madrid. Die Brücke zu Beginn des Trailers steht in Island. Und die Person, die den Fluss überquert, heisst Sólveig Katrín Jónsdóttir. Die Frau ist eine von vier Protagonisten des Films. Drei von ihnen haben etwas gemeinsam: Ihr Leben wurde von einer substanziellen Krise erschüttert. Der vierte, Alexander Lauterwasser, ist ein bekannter deutscher Philosoph. Von den Erschütterungen im Leben dieser Menschen erzählt «Paths of Life». Aber die Krise ist nur der Anfang. Die eigentliche Botschaft des Films beschreibt Lüchinger so: «Es geht darum, wie diese Menschen ihre Krise als Anlass für Veränderung nutzten und daraus neue Energie geschöpft haben. Sie haben dadurch gewissermassen das ‚Gold in ihrer Wunde’ gefunden, das sie heute mit anderen teilen.»

Die TP trifft Thomas Lüchinger (Regie und Kamera; Lustmühle) und seinen Mitarbeiter Samuel Kellenberger (Ton und Technik; St. Gallen) im Studio in St. Gallen. Unter dem Namen «roses for you film» produzieren und verleihen sie Dokumentarfilme. Ihr letztes Projekt «Being there – Da sein», das von Menschen erzählt, die Menschen im Sterbeprozess begleiten, hat sie schweizweit und international bekannt gemacht. «Ja, jetzt spüren wir natürlich einen gewissen Erfolgsdruck.» Lüchinger schmunzelt. Die Woche vor der ersten Aufführung ist für die beiden aber nicht ganz ohne: «Man kann die Reaktionen der Öffentlichkeit nie vorhersehen. Natürlich hoffen wird, dass der Film wirkt. Aber sicher sein kann man nie. Damit muss man umgehen können.»

Erfolg verpflichtet

Das Studio ist auf drei Räume verteilt. Zwei davon dienen fast ausschliesslich als Materiallager. Kameras, Akkus, Lichtquellen, Soundequipment, Stative, Taschen. «Das hat sich über die Jahre angesammelt.» Die meiste Zeit verbringen die beiden aber im zentralen Raum. Hier wird geschnitten, diskutiert, Kaffee getrunken und mit Cléo (Cleopatra), der Studio-Hündin, geschmust. «Wenn die Aufnahmen alle gemacht sind, fängt die grosse Arbeit erst richtig an. Und wenn der Grobschnitt fertig ist, beginnt noch einmal ein intensiver Prozess im Feinschnitt», erklärt Thomas Lüchinger. Jetzt, etwas mehr als eine Woche vor der Premiere, ist «Paths of Life» aber bereit zur Vorführung. Damit geht ein dreijähriger Prozess zu Ende. So lange dauert es normalerweise von der Idee bis zum fertigen Film. Aber was war eigentlich zuerst: Die Menschen oder die Idee? «Die Idee zu einem neuen Projekt entsteht bei mir meist während der Arbeit am letzten. Das war hier auch so. Bei ‘Being there’ erkannte ich, dass alle Protagonisten wegen einer persönlichen Krise ihren Beruf gewechselt haben. Heute begleiten sie Menschen in der letzten Lebensphase.»

Die Geldsuche

Auf die Idee folgt die Suche nach Protagonisten. Rund ein Jahr hat diese gedauert. Mit Inseraten, über persönliche Kontakte und im Internet. Aber für einen Film braucht es auch Geld. Thomas Lüchinger weiss, dass vergleichbare Dokumentar-Filme über ein weit höheres Budget verfügen. «Da wir fast alles selbst – Kamera, Ton, Schnitt und Verleih – machen, können wir vergleichsweise günstig produzieren.» Trotzdem: Ohne die Unterstützung der kantonalen Kulturförderung von Ausserrhoden und St. Gallen, sowie der Hilfe diverser Stiftungen aus dem Appenzellerland und des Bundesamtes für Kultur wäre «Paths of Life» nicht entstanden. Der Film wurde zudem vom SRF koproduziert. Die Geldsuche ist deshalb ein essenzieller Schritt beim Start jedes neuen Projekts. „Dieses Mal fiel uns das etwas leichter als zuvor. Der Erfolg von ‘Being there – Da Sein’ hat definitiv geholfen.»

Geschichten herauslösen

«Ich glaube, wir alle hören und sehen gerne Lebensgeschichten.» «Paths of Life» hat deshalb eigentlich alles, um seine Zuschauerinnen und Zuschauer zu berühren. Der Film erzählt von einer durch und durch menschlichen Erfahrung: Vom Erleben und Überstehen von Krisen, von der Suche nach neuer Kraft, von der Entscheidung Bekanntes aufzugeben und dem Mut, unbekannte Territorien zu betreten. «Wir alle haben schon Krisen erlebt. Wir können deshalb mit den Protagonisten mitfühlen.» Die grosse Herausforderung des Filmemachers besteht laut Lüchinger jeweils darin, das Vertrauen der Protagonisten zu gewinnen, um so die Geschichten möglichst gut erzählen zu können.

Der Mut berührt

Über die konkreten Schicksale will Lüchinger noch nicht allzu viel verraten. Einen kleinen Einblick lässt er sich aber entlocken. Da gibt es den Österreicher Marcus Pan, der nach dem Verlust seiner Heimat in die Schweiz zog und heute Menschen im Gestalten von Permakulturen anleitet. Dann ist da die 80-jährige Amerikanerin Aviva Gold, die ihre Erkenntnisse zur Transformation von Krisen anderen Menschen weitergibt. Und die Isländerin aus der ersten Trailer-Szene? Sie war ein erfolgreiches internationales Model, die nach dem Selbstmord ihrer Schwester in eine Sinnkrise fiel und dann Wege daraus suchte. Der vierte im Bunde ist der Philosoph Alexander Lauterwasser. Er wurde in einer Klinik in Salem für junge Drogenpatienten zum Mentor. Er versucht ihnen mit Beispielen aus der Kunst und Literatur Wege aus dem Scheitern zu zeigen.

Und welches der im Film geschilderten Schicksale hat die Filmemacher selbst am meisten berührt? «Auf ihre Art haben sie uns alle bewegt. Was uns vor allem beeindruckt, ist die Kraft, die sie aus ihren Erfahrungen gewonnen haben und wie sie das auf ihren Pfaden Gefundene heute mit anderen teilen.»

Hinweis: «Paths of Life» wird ab dem 5. März im «Kinok» in St. Gallen und ab dem 13. März im Kino Rosental in Heiden zu sehen sein. Weitere Kinodaten und Infos unter: www.pathsoflife.ch

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