Ein kleines Stück Schokolade für Mary

06.12.2011 | Lisa Tralci

Elisabeth Bosshard führt die Pension Alpenheim an der Gremmstrasse in Teufen. Die Pension bietet verschiedensten Menschen Unterkunft. Wanderer, Arbeiter, Geschäftsleute oder Ruhe suchende Menschen finden im alten, gut gepflegten Haus eine Übernachtungsmöglichkeit mit Frühstück. Immer wieder beherbergt Elisabeth Bosshard auch Menschen, die Angebote aus dem komplementärmedizinischen Sektor in Anspruch nehmen und deshalb einige Tage oder Wochen im Appenzellerland weilen.

Mary stand an einem kalten Winterabend ohne Anmeldung vor der Haustüre. Es war Dezember, an das genaue Datum erinnere ich mich nicht mehr. Ob sie hier bleiben könne, fragte die bleiche, erschöpfte Frau mit den kurzen Haaren. Sie kam aus den Vereinigten Staaten, wir sprachen französisch miteinander, für beide eine Fremdsprache. Ich hatte Platz und nahm sie auf. Sie hatte kein Gepäck ausser ihrem Rucksack. Sie erzählte mir, dass sie eine alternative Behandlung in Anspruch nehmen wolle. Eine von ihr in Amerika konsultierte Heilerin habe sie auf ein entsprechendes Angebot im Appenzellerland hingewiesen. Ich erfuhr, dass sie einfach ihre wenigen Sachen zusammengepackt hatte und in die Schweiz geflogen war, ohne sich irgendwo anzumelden.

Mary litt an einer Krebserkrankung. Sie war bereits sehr geschwächt, als sie hier eintraf. Anfangs fuhr sie noch mit einem Fahrdienst zu den Behandlungen, im Laufe der Zeit verschlechterte sich ihr Zustand zunehmend. Später trug sie der Chauffeur die Treppen hinunter und schliesslich bekam sie ihre Behandlungen hier im Zimmer. Diese hatten wohl vor allem schmerzlindernde Ziele, die Erkrankung war bereits weit fortgeschritten.

 «Ich bin überzeugt, dass Mary von guten Engeln abgeholt wurde. Mit weit ausgesteckten Armen und einem ganz entspannten Gesicht lag sie da.»

Die Adventstage zogen vorbei. Mary wusste, dass es für ihren Körper keine Heilung mehr geben würde. Sie fragte mich, ob sie bei mir bleiben könne, bis sie sterbe. Sie wollte weder zurück nach Amerika noch hier ins Spital. Von wo aus ihre Seele sich auf den Weg mache, sei nicht wichtig. Ich sagte ja, obwohl ich nicht genau wusste, was da auf mich zukommen würde. Menschen brauchen Zuwendung und Liebe, sie brauchen das Echte, nichts Gekünsteltes oder Scheinwelten. Ich bin erdverbunden und bekomme Kraft durch Pflanzen und Bäume, aus dem weiten Universum und durch die Tiere, die bei mir leben. Wenn jemand erzählen will, höre ich zu. Vielleicht wie eine Art Resonanzboden. Es gibt so viele leidvolle, erschütternde Schicksale.

Am Abend des 24. Dezember 2000 sassen wir bei Mary. Sie war zu schwach, um aufzustehen. Auf einem Tannenreisig steckte ein Kerzlein. Mary liess sich eine Gitarre auf ihren Bauch legen und zupfte sanfte Melodien. Es gab ein einziges Geschenk. Ein ganz kleines Schokoladestück für Mary. Ich vergesse nie, was für eine Freude diese noch nicht einmal fünfzigjährige Frau an diesem Stück Schokolade hatte. Sie konnte es nur ganz langsam und mit viel Mühe zu sich nehmen.
Mary lag einfach in ihrem Zimmer. Oft hörte sie Musik, zum Lesen fehlte ihr die Kraft. Essen mochte sie immer weniger, manchmal etwas Suppe oder ein gekochtes Ei. Ich habe sie nie klagen gehört. Sie schien getragen von einer Zufriedenheit und innerer Ruhe. Angst vor dem Tod schien ihr fremd zu sein. Niemals sprach sie schlecht über jemanden. Oft erzählte sie mir von ihren vielen Reisen, die sie in Länder geführt hatten, in denen Armut herrschte. Sie selber hatte wenig materiellen Besitz. In Amerika hatte sie längere Zeit bei einem ihrer beiden Brüder gelebt. Mit dem anderen Bruder hatte sie seit geraumer Zeit keinen Kontakt mehr, weltanschauliche Gründe hatten zum Zwist geführt. Es war eindrücklich und zutiefst berührend, mitzuerleben, wie sie Kontakt aufnahm mit eben diesem Bruder. Er kam, und die beiden feierten mit einer Pizza auf dem Bett und einem Glas Rotwein Versöhnung. Mary gab mir ihr Testament und Briefe für ihre Brüder und für die Menschen, in deren Behandlung sie sich begeben hatte. Sie äusserte den Wunsch, nach ihrem Tod kremiert zu werden.
Die wenigsten Gäste wussten, dass in diesem Zimmer eine sehr kranke Frau lag. Ich reinigte jeweils ihr Zimmer und bezog das Bett frisch. Mary wollte keinerlei Unterstützung bei der Körperpflege. Vielleicht wollte sie mir ihren versehrten Körper nicht zumuten. Sie spürte, dass der Zeitpunkt für den Übertritt in eine andere Welt gekommen war. Drei Monate nach ihrem Auftauchen starb sie. Ich bin überzeugt, dass Mary von guten Engeln abgeholt wurde. Mit weit ausgestreckten Armen und einem ganz entspannten Gesicht lag sie da.

Wir haben sie ihrem Wunsch entsprechend beerdigt. Ihre Asche liegt im Gemeinschaftsgrab auf dem Teufner Friedhof. Einige Zeit später kam der Bruder, bei dem sie gelebt hatte, auf Besuch. Er wollte sehen, wo seine Schwester die letzten Wochen gelebt hatte und wo die sterblichen Überreste begraben waren. Sein Dank für die Herberge, die ich seiner Schwester geboten hatte, rührte mich.

 

«Ich vergesse nie, was für eine Freude diese noch nicht einmal fünfzigjährige Frau an diesem Stück Schokolade hatte. Sie konnte es nur ganz langsam und mit viel Mühe zu sich nehmen.»

All die Zeit, die Mary bei mir war, hatte sie nie von einem Freund gesprochen. Über ein halbes Jahr später meldete sich ein Mann aus Amerika, der sich als Marys Freund ausgab. Er wollte vorbei kommen und in dem Zimmer schlafen, in dem sie gelebt hatte. Ich machte das möglich und der Mann kam für ein paar Tage nach Teufen. Seit dieser Zeit, das sind nun über zehn Jahre, schreibt dieser Mann regelmässig an Marys Geburts- und Todestag. Den Briefen ist jeweils Geld beigelegt für gelbe Rosen mit der Bitte, diese auf ihr Grab zu stellen.

 

Mary wird immer in meinen Erinnerungen bleiben. Wir durften eine wunderschöne gemeinsame Zeit verbringen.

 

Notiert: Lisa Tralci

 

Die Autorin Lisa Tralci lebt seit 2009 in Teufen. Sie schreibt u.a. Kolumnen im Appenzeller Magazin. Letzte Publikation: „Wechselfälle. Vom Umgang mit biografischen Herausforderungen. Elf Porträts“, 2011 im Appenzeller Verlag Herisau. www.lisa-tralci.ch.

 

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