Nerina Keller
Katholische Kirche und Missbrauch. Zwei Begriffe, die in den vergangenen Jahren nicht selten in einem Satz gefallen sind. Aufgrund der heute gehaltenen Medienkonferenz rückt das Thema wieder in den Mittelpunkt. Mitarbeitende der Universität Zürich klärten über die Erkenntnisse ihrer Pilotstudie auf. Für diese wurden bis anhin für die Wissenschaft nicht zugängliche Dokumente der Kirche untersucht. Dabei wurden 1002 Missbrauchs-Fälle belegt, die zwischen 1950 und heute abspielten. Zahlen, die Diakon Stefan Staub (persönlicher Kommentar unten) erschüttern.
Stefan Staub, welcher war Ihr erster Gedanke, als Sie der Medienkonferenz lauschten?
Meine Güte, was für eine Schuld haben wir uns da aufgeladen? Dass Missbrauch in der katholischen Kirche ein Thema ist, war mir nicht neu. Aber dieses Ausmass machte mir nochmals bewusst, wie viel System auch dahinter war.
Sie meinen das jahrelange Vertuschen der Fälle und Schützen der Täter?
Genau! Ich glaube, in diesen Fällen wurde der Schutz der Täter höher gewichtet als jener der Opfer. Und das ist eine Katastrophe. Grund dafür war aus meiner Sicht eine innerkirchliche Solidarität. Der solidarischen Brüderlichkeit wird in der Kirche viel Bedeutung zugeschrieben. Das mag sinnvoll und wichtig sein, ist in Missbrauchsfällen aber komplett am falschen Ort.
Seit vielen Jahren gibt es immer wieder Meldungen zu Missbrauch in der Kirche. Hat Sie die Nachricht wirklich noch überrascht?
Das Ausmass schon, ja. Die Universität Zürich hat in einer unabhängigen Arbeit untersucht, wie viele Missbrauchsfälle es gab. Die Zahlen sind erschütternd, werden aber auch erst als «Spitze des Eisbergs» bezeichnet. Viele Archive, in denen weitere Dokumentationen von Übergriffen liegen könnten, wurden noch nicht untersucht.
In diesen Berichten geht es ja vor allem um die Aufarbeitung der Vergangenheit. Gibt es solche Fälle auch heute noch?
Natürlich ist es nie vollkommen ausgeschlossen, dass so etwas geschieht. Meiner Meinung nach ist es aber so gut wie nicht mehr möglich, dass Missbrauch nicht gemeldet oder unter den Tisch gekehrt wird. Seit in den 2000er-Jahren die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen begonnen hat, wurden schon sehr viele Massnahmen ergriffen. Es gibt viel mehr Kontrollinstanzen. Ein Beispiel: Ich muss bei jedem Stellenwechsel einen Strafregisterauszug abgeben. Alles Menschenmögliche wird meiner Meinung nach getan, um Wiederholungen zu verhindern. Aber viel zu tun gibt es nach wie vor.
Welche Reformen braucht es?
Die Strukturen der katholischen Kirche müssen diskutiert und auch infrage gestellt werden. Zum Priesteramt gehört auch das Zölibat. Meiner Meinung nach ist diese auferlegte sexuelle Enthaltsamkeit aber schon lange nicht mehr zeitgemäss. Ausserdem sollten Frauen den Männern in der katholischen Kirche endlich gleichgestellt werden. Dazu gehört auch, dass sie sämtliche Ämter übernehmen können.
Warum sind Reformprozesse in der Kirche so «zäh»?
Wir sind eine Weltkirche. Und alle Fäden laufen in Rom zusammen, wo auch Entscheidungen gefällt werden. Meiner Meinung nach braucht es viel mehr Freiheiten für regionale Unterschiede. Dafür muss die Verbindung zum Vatikan und zum Papst nicht aufgegeben werden. Aber wie soll eine Religion mit denselben Regeln und Strukturen für alle möglichen Kulturen und Regionen rund um den Globus funktionieren? Nur ist es auch nicht immer ganz einfach, innovationsfreudige Menschen zu finden. Trotzdem: Ich stehe nach wie vor voll und ganz hinter der grundlegenden Botschaft der Kirche.
Kommentar von Stefan Staub
Wir können nicht zur Tagesordnung zurückkehren!
Kommentar zu den Missbrauchsfällen der Katholischen Kirche in der Schweiz
Die meisten Seelsorgenden der Katholischen Kirche Schweiz haben mit Bangen auf die heutige Pressekonferenz zur Studie der Universität Zürich über die Missbrauchsfälle der Katholischen Kirche Schweiz, geschaut. Nicht deshalb, weil sie sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben. Sondern weil sie die Schuld, welche die Kirche über Jahrzehnte durch Wegschauen, Vertuschen und Ignorieren auf sich geladen hat, nun ausbaden müssen. Ein Trost bleibt: das offensichtliche Bagatellisieren und Ignorieren der leidvollen Tatsachen wäre heute so vermutlich kaum mehr möglich. Wir alle sind hoch sensibel auf das Thema Missbrauch und Kirche geworden. Jeder Seelsorger, jede Seelsorgerin wird seit einem Jahrzehnt durchleuchtet auf seine oder ihre Vergangenheit.
Die Kirche sieht sich in ihrer grössten Krise – vermutlich der noch grösseren als es die Reformationszeit war. Nicht zu Unrecht ist die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Vertreter infrage gestellt. Sexueller Missbrauch – sei an Erwachsenen oder an wehrlosen Kindern – gab und gibt es vermutlich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Jeder Missbrauch ist ein Skandal und zutiefst verwerflich. Die Kirche führt diese Rangliste zurecht an, da sie für sich den ethisch-moralischen Anspruch reklamiert. Die kirchlichen Würdenträger wären eigentlich Menschen des absoluten Vertrauens. Die biblische Botschaft ist eine Botschaft der Solidarität, der Gerechtigkeit und der Menschenwürde. Jeder Missbrauchsfall hat diese Prinzipien mit Füssen getreten. Unser Argument, dass es doch viel Gutes gibt, was Kirchen und die ihre caritativen Institutionen leisten. Dass sich, auf die Jahre und die Anzahl Menschen hochgerechnet, vermutlich ein einstelliger Prozentsatz von Würdenträgern schuldig gemacht hat, vermag sich nicht mehr zu halten. Zu lange hat man den einstelligen Prozentsatz von Tätern aus falschem Mitleid geschützt. Die christliche Haltung der Vergebung steht bei solch schlimmen Straftaten an. Vergebung ist doch erst möglich, wenn Einsicht und Gerechtigkeit einkehren. Darin hat die Kirche versagt. Ein Zeitgenosse pflegte zu sagen: «Tausend Gassenküchen wiegen einen einzigen Missbrauchsfall nicht auf». Wie recht er hat, denn es geht um das grösste «Kapital» der Kirche, um ihre Glaubwürdigkeit und gerade um die Gerechtigkeit gegenüber Opfern, die sich bei einem solch grotesken Machtmissbrauch nicht wehren können.
Was dies nun für die Kirche heissen wird, wird sich zeigen. Sicher ist, dass wir Kirchenvertretende nicht zur Tagesordnung zurückkehren können und wollen. Es ist nicht mehr möglich, diese erschütternde Krise abzusitzen. Der Zerfall des kirchlichen Einflusses in der Gesellschaft gibt ihr die Vorrangstellung definitiv nicht mehr zurück. Ich glaube, dass es ohne fundamentale Reformen in Amtsfragen und Strukturen nicht geht, wenn die Kirche wieder zu einer glaubwürdigen Zeugin der Liebe Gottes werden will.
So gesehen birgt diese tiefe Glaubwürdigkeitskrise eine Chance: die Kirche muss zu den Wurzeln Jesu zurückfinden. Sie muss das «Büssergewand» zeichenhaft sich selbst überwerfen, Einsicht zeigen und um Vergebung bitten. Sie muss ihre Strukturen nach und nach überdenken und neu ordnen. Sie kommt nicht drum herum, sich die Zölibatsfrage und Gechlechterfrage ernsthaft zu stellen. Und nicht zuletzt tut sie sich gut daran, weniger sich auf die Tradition zu berufen, sondern viel mehr wieder bewusst hinzuhören, was die Menschen von heute bewegt und vor allem, was der göttliche Geist in der Welt von heute von ihr fordern könnte.