«Die Ruckhalde war schon damals ein kühnes Projekt»

04.10.2018 | Erich Gmünder
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Alte Ansichtskarte der Ruckhaldenkurve. Gut sichtbar der Damm. Stadtarchiv
Nach fast 130 Jahren gehört die Ruckhalde mit der legendären engsten Zahnrad- Bahnkurve der Welt der Vergangenheit an. Am Ostermontag fuhr letztmals ein Zug über die Ruckhalde. Wohl eine Million Mal wurde diese Strecke rauf und runter befahren, nun ist sie Geschichte und der Höhenunterschied wird durch einen Tunnel überwunden. (Dieser Beitrag erschien zuerst in der TP 4/2018)
Willi Müller. Im Hintergrund der mittlerweile renaturierte Verlauf des Ruckhalderanks – der ehemals engsten Zahnradkurve der Welt. Foto: EG
Der Teufner Willi Müller hat die Geschichte des «Gääserbähnli » wie kaum jemand vor ihm akribisch erforscht und ist dabei auf verschollen geglaubte Originaldokumente gestossen. Die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit hat er in einer historischen Arbeit festgehalten. Diese ist auch Grundlage für eine Ausstellung des Museums Appenzeller Bahnen, die zuerst in Wasseraugen und ab diesem Wochenende im Rahmen der Eröffnung der Bahnmodernisierung auch in St.Gallen zu sehen ist. Interview: Erich Gmünder Willi Müller*, Sie haben sich mehrere Monate intensiv mit der Geschichte der Appenzeller Bahnen und insbesondere der Ruckhalde auseinandergesetzt. Was ist denn das besonders Faszinierende an dieser Bergstrecke? Faszinierend an der Ruckhaldenstrecke ist gleich Mehreres: Zum einen natürlich die weltweit engste Zahnradkurve mit einem Radius von 30 Metern. Das gab es nur einmal und gibt es jetzt nicht mehr. Zum zweiten die Kühnheit – oder vielleicht Frechheit – der Anlage. In einem Hang von 30 Prozent Neigung dreissig Meter weit «ins Leere hinaus» einen Damm zu bauen, war zu der Zeit schon kühn. Es rechne sich jeder die Höhe des Dammes selber aus – oder gehe hin und schaue es sich an. Während der Hang seit 1889 um ca. 2m nach unten gewandert ist, steht der Damm bis heute unbewegt. Faszinierend.
Blick von der Ruckhaldenkurve. Aufnahme aus den Anfangsjahren. Archiv Ortsbürgergemeinde St.Gallen
Die gleiche Zugskomposition in Gegenrichtung. Archiv Ortsbürgergemeinde St.Gallen
Die Kurve musste oben im Hang einmal korrigiert werden. Leider wissen wir nicht, wie der Damm im Innern konstruiert ist. Es gibt keine Unterlagen über den Bau. Was waren denn die hauptsächlichen Schwierigkeiten bei der Überwindung des Höhenunterschieds? Von St.Gallen nach Süden steht überall entweder ein steiler Hang oder liegt ein Tobel. Der Höhenunterschied, der zu überwinden ist, beträgt immer etwa 70 Meter. Weil die Steigung der Bahn nicht über etwa 100 Promille gehen durfte, brauchte es also etwa 700 Meter Strecke. Und die hatte man nicht am Stück. Also musste man eine Kehre bauen.
Ruckhaldenkurve während des Baus. Archiv Ortsbürgergemeinde St.Gallen
Welche anderen Alternativen wurden studiert? 1872–74, beim ersten Anlauf, standen eine Strecke über die Speicherschwendi nach Speicher oder eine solche um die Menzlen herum (unterhalb der Solitüde) in die Hauteten im Vordergrund. Zahnrad war noch keine Möglichkeit. Die Strecke um die Menzlen herum wäre vielleicht heute noch die bessere und billigere gewesen. Allerdings liebäugelten die Appenzeller schon damals auch mit einer Kehrkurve oder sogar mit einer Spitzkehre. Aber die Kehrkurve wäre dann eine riesige Steige-Schlaufe gewesen, vergleichbar mit jener bei Poschiavo. Sie hätte etwa bei der heutigen St.Otmarkirche begonnen und wäre quer über das Tal zum Melonenhof oder etwas darüber geführt worden. Von dort wäre die Bahnlinie zur heutigen Gottfried-Keller-Strasse verlaufen und etwa dieser entlang nach St.Georgen und von hier zum Riethüsli. Das war damals alles grüne Wiese!
Vermuteter Verlauf der Tunnelidee 1874 (gerade blaue Linie).
Ruckhaldekurve und Tunnelprojekt 2018. Appenzeller Bahnen
Gab es damals schon Ansätze, die Bahn in einen Tunnel zu verlegen? Die gab es 1874. Die Fabrikanten aus dem Appenzeller Mittelland wollten die kürzeste Strecke und verlangten eine Tunnel-Lösung. Weil man aber schon damals um die Qualität des Untergrundes wusste, wäre das technisch nicht gerade unmöglich, aber enorm teuer geworden. Der Ingenieur, der die Machbarkeitsstudie verfasste, bezeichnete die Idee ziemlich unverhohlen als Unsinn. Man hätte von oben, etwa ab der heutigen Spurt-Tankstelle im Riethüsli, mit maximal 40 Promille Gefälle graben müssen. Dabei wäre der grössere Teil des gut 800m langen Tunnels im wässrigen Moränenschutt verlaufen. Das hätte bedeutet, dass man geschaufelt, dann laufend ein Holzgewölbe eingezogen und dieses nachher ausgemauert hätte. Das Wasser hätte man in Richtung Wattbach (nach oben) abpumpen müssen – mit Dampfmaschinen-Pumpen nota bene. Man stelle sich das vor! Beim effektiven Bau der Bahn 1882–1889 stand nur noch das Riethüsli zur Diskussion. Zuerst wollte man mit 75cm Spurbreite (Waldenburg-Bahn) der Teufener Strasse entlangfahren. Das verbot die Stadt aber. Danach kam sofort die Ruckhalde zum Zug, von Anfang an genau so, wie sie dann gebaut wurde. Wer gab denn überhaupt den Anstoss für die Erschliessung des Appenzellerlandes durch eine Bahn? Die Textilfabrikanten vom Speicher und von Teufen bis Gais. Sie wollten Anschluss an die Bahn für den Export in die ganze Welt. Die St.Galler hatten nie Freude an diesem Projekt der Ausserrhoder Konkurrenten und hätten es am liebsten aus der Stadt verbannt. Den Ausserrhoder Textilfabrikanten ging es um Transportzeiten und um den Schutz der fertig ausgerüsteten neuen Ware. Stichwort Bahntempo und geschlossener Güterwagen gegen Fuhrwerk.
Die Ruckhaldenkurve nach dem Abbruch der Gleise, April 2018. Luftaufnahme: EG
Kamen Sie im Laufe Ihrer Forschung zu neuen Ergebnissen? Die ganzen Planungen von 1872–1877 (es gab 1877 noch ein kurzes Nachspiel) waren verschollen. Die vorhandenen Informationen darüber waren ungenau bis falsch. Dank mehrfachem Nachbohren mit verschiedenen Suchbegriffen und dank einer findigen Mitarbeiterin des Staatsarchivs AR ist das nahezu lückenlose Dossier mit allen Korrespondenzen, Plänen und Berichten aufgefunden worden. Diese Unterlagen haben wir im Detail aufgearbeitet. Seither wissen wir, was 1872 – 1877 wirklich vorgegangen ist. Und worüber auch nie jemand gesprochen hat, ist der Kleinkrieg der St.Galler vor und während der Bauzeit gegen die Gaiserbahn, als diese einen Anschluss an die Güterschuppen der V.S.B (der Vorläuferin der SBB) und einen Bahnhof auf dem Bahnhofplatz wollte. *Willi Müller Willi Müller (Tüüfner Chopf 3/2004) ist in der Ebni in Teufen aufgewachsen. Nach der Matura an der Kanti St.Gallen folgte ein betriebswirtschaftliches Studium an der HSG St.Gallen, das er mit dem Doktorat abschloss. 1982 wurde er zum ersten Finanzsekretär von Appenzell Ausserrhoden gewählt. Seit seiner Pensionierung 2004 beschäftigt er sich leidenschaftlich mit der Geschichte des Gääser Bähnli und ist Gründungsmitglied und Präsident des Museumsvereins Appenzeller Bahnen. TP  

Der Ruckhalde-Tunnel – ein Thema schon vor 140 Jahren

Anfangs April eröffnete das Museum Appenzeller Bahnen in Wasserauen seine diesjährige Saison mit einer aktuellen Ausstellung zum Thema Ruckhalde. Wussten Sie, dass der Anstoss für die Gaiserbahn aus dem Appenzeller Mittelland und namentlich aus Teufen kam und zwar von Seiten von Minister Arnold Roth, hinter dem die Textilfabrikanten standen, und dass für sie der Ruckhalde- Tunnel bereits in den 1870-er Jahren ein Thema war? Dass dieses Projekt und andere geprüfte Möglichkeiten abgebrochen wurden und dass es seither drei weitere Tunnel- Anläufe gegeben hat? Nur gerüchteweise war etwas davon bekannt. Das Museum Appenzeller Bahnen hat die verloren geglaubten originalen Projektunterlagen wiederentdeckt. Es zeigt in seiner diesjährigen Ausstellung aufgrund von Originalunterlagen die ganze Entwicklung von den ersten Studien 1872–1880 bis zum Bau der Ruckhalden-Strecke 1888–89. Sie erleben den Weg von den ersten Ideen 1872 bis zum Abbruch des ersten Projektes. Zu sehen sind aber auch der komplizierte Verlauf des zweiten Projektes von 1881 bis zur Bahneröffnung 1889 und die diversen Tunnelprojekte ab 1960. Geöffnet jeweils Samstag/Sonntag von 11 bis 17 Uhr. Anlässlich der Eröffnung des Tunnels anfangs Oktober folgt im Rathaus St.Gallen und im Foyer der GBS Riethüsli eine grössere Ausstellung zum gleichen Thema. Ein Buch über diese Geschichte ist in Arbeit und für den Herbst geplant. Für den Druck fehlt noch die Finanzierung. Weitere Quellen: Müller, Stephan: Die Geschichte der Appenzeller Bahnen AB/AG/SGA Diss. Herisau 1981. Hardegger, Josef: 100 Jahre Gaiserbahn, Herisau 1989 (vergriffen). Gächter, Arthur: Die «Appenzeller Strassenbahn», Hektografie im Selbstverlag (Vergriffen).  70 Meter der engsten Zahnradbahnkurve der Welt sind eingelagert und warten auf eine neue Bestimmung. Foto: EG [post_teaser id=“111343″]

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