Nach fast 130 Jahren gehört die Ruckhalde mit der legendären engsten Zahnrad- Bahnkurve der Welt der Vergangenheit an. Am Ostermontag fuhr letztmals ein Zug über die Ruckhalde. Wohl eine Million Mal wurde diese Strecke rauf und runter befahren, nun ist sie Geschichte und der Höhenunterschied wird durch einen Tunnel überwunden.
(Dieser Beitrag erschien zuerst in der TP 4/2018)
Der Teufner Willi Müller hat die Geschichte des «Gääserbähnli » wie kaum jemand vor ihm akribisch erforscht und ist dabei auf verschollen geglaubte Originaldokumente gestossen. Die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit hat er in einer historischen Arbeit festgehalten. Diese ist auch Grundlage für eine Ausstellung des Museums Appenzeller Bahnen, die zuerst in Wasseraugen und ab diesem Wochenende im Rahmen der Eröffnung der Bahnmodernisierung auch in St.Gallen zu sehen ist.
Interview: Erich Gmünder
Willi Müller*, Sie haben sich mehrere Monate intensiv mit der Geschichte der Appenzeller Bahnen und insbesondere der Ruckhalde auseinandergesetzt. Was ist denn das besonders Faszinierende an dieser Bergstrecke?
Faszinierend an der Ruckhaldenstrecke ist gleich Mehreres: Zum einen natürlich die weltweit engste Zahnradkurve mit einem Radius von 30 Metern. Das gab es nur einmal und gibt es jetzt nicht mehr. Zum zweiten die Kühnheit – oder vielleicht Frechheit – der Anlage. In einem Hang von 30 Prozent Neigung dreissig Meter weit «ins Leere hinaus» einen Damm zu bauen, war zu der Zeit schon kühn. Es rechne sich jeder die Höhe des Dammes selber aus – oder gehe hin und schaue es sich an. Während der Hang seit 1889 um ca. 2m nach unten gewandert ist, steht der Damm bis heute unbewegt. Faszinierend.
Die Kurve musste oben im Hang einmal korrigiert werden. Leider wissen wir nicht, wie der Damm im Innern konstruiert ist. Es gibt keine Unterlagen über den Bau.
Was waren denn die hauptsächlichen Schwierigkeiten bei der Überwindung des Höhenunterschieds?
Von St.Gallen nach Süden steht überall entweder ein steiler Hang oder liegt ein Tobel. Der Höhenunterschied, der zu überwinden ist, beträgt immer etwa 70 Meter. Weil die Steigung der Bahn nicht über etwa 100 Promille gehen durfte, brauchte es also etwa 700 Meter Strecke. Und die hatte man nicht am Stück. Also musste man eine Kehre bauen.
Welche anderen Alternativen wurden studiert?
1872–74, beim ersten Anlauf, standen eine Strecke über die Speicherschwendi nach Speicher oder eine solche um die Menzlen herum (unterhalb der Solitüde) in die Hauteten im Vordergrund. Zahnrad war noch keine Möglichkeit. Die Strecke um die Menzlen herum wäre vielleicht heute noch die bessere und billigere gewesen. Allerdings liebäugelten die Appenzeller schon damals auch mit einer Kehrkurve oder sogar mit einer Spitzkehre. Aber die Kehrkurve wäre dann eine riesige Steige-Schlaufe gewesen, vergleichbar mit jener bei Poschiavo. Sie hätte etwa bei der heutigen St.Otmarkirche begonnen und wäre quer über das Tal zum Melonenhof oder etwas darüber geführt worden. Von dort wäre die Bahnlinie zur heutigen Gottfried-Keller-Strasse verlaufen und etwa dieser entlang nach St.Georgen und von hier zum Riethüsli. Das war damals alles grüne Wiese!
Gab es damals schon Ansätze, die Bahn in einen Tunnel zu verlegen?
Die gab es 1874. Die Fabrikanten aus dem Appenzeller Mittelland wollten die kürzeste Strecke und verlangten eine Tunnel-Lösung. Weil man aber schon damals um die Qualität des Untergrundes wusste, wäre das technisch nicht gerade unmöglich, aber enorm teuer geworden. Der Ingenieur, der die Machbarkeitsstudie verfasste, bezeichnete die Idee ziemlich unverhohlen als Unsinn. Man hätte von oben, etwa ab der heutigen Spurt-Tankstelle im Riethüsli, mit maximal 40 Promille Gefälle graben müssen. Dabei wäre der grössere Teil des gut 800m langen Tunnels im wässrigen Moränenschutt verlaufen. Das hätte bedeutet, dass man geschaufelt, dann laufend ein Holzgewölbe eingezogen und dieses nachher ausgemauert hätte. Das Wasser hätte man in Richtung Wattbach (nach oben) abpumpen müssen – mit Dampfmaschinen-Pumpen nota bene. Man stelle sich das vor!
Beim effektiven Bau der Bahn 1882–1889 stand nur noch das Riethüsli zur Diskussion. Zuerst wollte man mit 75cm Spurbreite (Waldenburg-Bahn) der Teufener Strasse entlangfahren. Das verbot die Stadt aber. Danach kam sofort die Ruckhalde zum Zug, von Anfang an genau so, wie sie dann gebaut wurde.
Wer gab denn überhaupt den Anstoss für die Erschliessung des Appenzellerlandes durch eine Bahn?
Die Textilfabrikanten vom Speicher und von Teufen bis Gais. Sie wollten Anschluss an die Bahn für den Export in die ganze Welt. Die St.Galler hatten nie Freude an diesem Projekt der Ausserrhoder Konkurrenten und hätten es am liebsten aus der Stadt verbannt. Den Ausserrhoder Textilfabrikanten ging es um Transportzeiten und um den Schutz der fertig ausgerüsteten neuen Ware. Stichwort Bahntempo und geschlossener Güterwagen gegen Fuhrwerk.
Kamen Sie im Laufe Ihrer Forschung zu neuen Ergebnissen?
Die ganzen Planungen von 1872–1877 (es gab 1877 noch ein kurzes Nachspiel) waren verschollen. Die vorhandenen Informationen darüber waren ungenau bis falsch. Dank mehrfachem Nachbohren mit verschiedenen Suchbegriffen und dank einer findigen Mitarbeiterin des Staatsarchivs AR ist das nahezu lückenlose Dossier mit allen Korrespondenzen, Plänen und Berichten aufgefunden worden. Diese Unterlagen haben wir im Detail aufgearbeitet. Seither wissen wir, was 1872 – 1877 wirklich vorgegangen ist.
Und worüber auch nie jemand gesprochen hat, ist der Kleinkrieg der St.Galler vor und während der Bauzeit gegen die Gaiserbahn, als diese einen Anschluss an die Güterschuppen der V.S.B (der Vorläuferin der SBB) und einen Bahnhof auf dem Bahnhofplatz wollte.
*Willi Müller
Willi Müller (Tüüfner Chopf 3/2004) ist in der Ebni in Teufen aufgewachsen. Nach der Matura an der Kanti St.Gallen folgte ein betriebswirtschaftliches Studium an der HSG St.Gallen, das er mit dem Doktorat abschloss. 1982 wurde er zum ersten Finanzsekretär von Appenzell Ausserrhoden gewählt. Seit seiner Pensionierung 2004 beschäftigt er sich leidenschaftlich mit der Geschichte des Gääser Bähnli und ist Gründungsmitglied und Präsident des Museumsvereins Appenzeller Bahnen. TP