Er ist 12 bis 13 Zentimeter lang. Hat eine Spannweite von 21 bis 25 Zentimetern. Wiegt zwischen 12 und 18 Gramm und hat ein besonders buntes Gefieder. «Der Stieglitz oder Distelfink ist ein gutes Beispiel dafür, was Vögel brauchen.» Petra Horch ist eine der beiden Gastredner an diesem Abend. Sie ist eine der 170 Vollzeitangestellten der Vogelwarte Sempach. Die schweizweit tätige Organisation mit einem jährlichen Budget von rund 30 Mio. Franken – hauptsächlich spendenfinanziert – feiert heuer ihr 100-jähriges Jubiläum. Dazu gehört auch Öffentlichkeitsarbeit. Und der schöne Stieglitz kommt vermutlich bei fast jedem Publikum gut an. Heute muss Petra Horch allerdings kaum um die Gunst der Zuhörenden werben. Denn im gut gefüllten Lindensaal sitzen vor allem Biodiversitäts-Freunde. Sie sind der Einladung der «Aktion für Biodiversität in Teufen» gefolgt – viele von ihnen sind selber Aktivisten. Aber auch sie wissen nicht alles über den prächtigen Stieglitz. «Er ist mehrheitlich Veganer. Mit einigen Ausnahmen. Zum Beispiel beim Nachwuchs. Die ersten 10 Tage werden sie ausschliesslich mit Blattläusen gefüttert. Sonst würden sie nicht schnell genug wachsen.» Wie viele der 200 in der Schweiz heimischen Brutvögel ist er auf ein vielfältiges (ganzjähriges) Futterangebot, sichere Brutplätze (in der Baumkrone) und eine heterogene Umgebung angewiesen. «Trinkstellen sind beispielsweise sehr wichtig. Also Stellen, wo sich etwas Regenwasser sammeln kann.»
Vögel sind Gradmesser der Natur
Vögel sind ein Spiegel für den Zustand unserer Umwelt. Da sie in der Nahrungskette weit oben anzusiedeln sind, sind sie ein besonders guter «Temperaturmesser» für unsere natürlichen Umgebung. Ausserdem sind sie meist tagaktiv, oft rasch sicht- und leicht identifizierbar. Und für die Schweiz gilt laut der Vogelwarte Sempach nach wie vor: Die Vögel sind arg in Bedrängnis. Zwar hat sich der Bestand einzelner – oft siedlungsnaher – Arten erholt, von den rund 200 hier heimischen Brutvogelarten befinden sich aber nach wie vor 40 Prozent auf der «Roten Liste». Das bedeutet: Sie sind bedroht – und weitere 20 Prozent sind «potenziell gefährdet».
Am Beispiel des Stieglitzes zeigt Petra Horch: Eine auf maximale Rendite ausgerichtete Agrarkultur fördert zwar Generalisten wie die Krähe, sie ist aber extrem schädlich für die Artenvielfalt. Für die Siedlungsräume und die Städte gilt vor allem: so wenig Glas und so viel Grün wie möglich. «Vögel gibt es seit Millionen von Jahren. Glasfassaden erst seit rund 100. Damit kommen sie schlicht nicht zurecht.» Die gute Nachricht ist, dass Vögel sehr anpassungsfähig sind. Wenn sie in einem Siedlungsumfeld oder in der Stadt genügend Nahrung und einen Platz zum Brüten finden, vermehren sie sich dort auch. Auch der Zufütterung mit Vogelhäuschen kann Petra Horch durchaus Positives abgewinnen: «Für viele spätere Vogel-Liebhaber ist das der erste Kontakt mit diesen schönen Tieren. Aber noch besser sind natürliche Nahrungsquellen – also passende Pflanzen im Garten.»
Die Suche nach dem Kompromiss
Bei Andres Scholl laufen die Fäden zusammen. Das wird bei der Fragerunde nach seinem Vortrag deutlich. Er ist als Leiter der Abteilung Natur und Wildtiere sowie der Fachstelle Natur und Landschaft Dreh- und Angelpunkt der Ausserrhoder Biodiversitäts-Anstrengungen. Das bedeutet auch: Er kennt die Perspektiven aller Beteiligten. Auf die Frage eines Zuhörers, ob man nicht die Subventions-Bedingungen der Landwirtschaft anpassen müsste, sagt er: «Das ist ein Spannungsfeld. Wir brauchen als Schweiz einheitliche Bestimmungen dafür, was, wann, wie subventioniert wird. Solche Regeln können nie alle Einzel- und Sonderfälle berücksichtigen. Und dann ist da noch die Frage der Kontrolle: Braucht es mehr oder setzen wir besser auf Eigenverantwortung?»
Er macht damit klar: Für das komplexe Puzzle der Biodiversitäts-Förderung gibt es keine einfache, dogmatische Antwort. Denn die heutige Agrar- und Siedlungslandschaft lässt sich nicht auf einen Schlag umkrempeln. Wie rasant wir unsere Umwelt verändert haben, zeigt er anhand einer Luftaufnahme von Teufen aus dem Jahr 1946. «Heute sieht das ganz anders aus. Viel mehr Gebäude, aber auch eine ganz andere Kulturlandschaft, mit viel grösseren, einheitlicheren Flächen.»
Damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde dank des Einsatzes von Dünger und mehr und mehr Maschinen das endgültige Ende der Dreifelder-Wirtschaft eingeläutet. «Seit rund 6000 vor Christus hatten die Menschen ihr Agrarland so bestellt. Und dabei unbewusst auch der Natur geholfen.» Denn bei dieser Art der Landwirtschaft – heute würde man sie als sehr extensiv bezeichnen – wurde der erste Schnitt frühestens im Juli, manchmal sogar erst im August gemacht. Davor graste höchstens das Vieh. «So schuf der Mensch Lebensraum für viele Tiere wie die Wiesenbrüter.»
Für Andres Scholl ist aber auch klar: «Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Wollen wir vermutlich auch nicht. Das Leben damals war nämlich ganz schön streng.» Stattdessen will der Kanton vorwärtsschauen und die Biodiversität mit geeigneten Massnahmen fördern. «Das übergeordnete Ziel ist die 30-Prozent-Marke.» So viel der Bodenfläche müsste laut internationalen Studien biologisch wertvoll sein, um das nachhaltige Überleben der natürlichen Vielfalt zu sichern. Stand heute ist Ausserrhoden laut Scholl bei 18.8 Prozent. «Uns kommt da die Topographie etwas zur Hilfe. Niemand hat Mühe damit, wenn wir die steilen Tobel in den Waldschutz überführen.» Aber auch bei der Landwirtschaft werden Biodiversitäts-Flächen geschaffen: Inseln aus Dornbüschen oder neue Hochstamm-Obstbäume. «Klar. Das alles braucht Zeit. Und uns fehlt es nach wie vor an Fläche. Aber wir sind dran und auch die Sensibilisierung – sei es bei neuen Bauprojekten oder in der Landwirtschaft – für das Thema ist spürbar.»
Ein Netzwerk aufbauen
Moderator Alexander Assmus hat noch einige weitere Trümpfe im Ärmel. «Wir haben heute Abend Mitglieder von Biodiversitäts-Organisationen aus Ausserrhoden eingeladen. In der Hoffnung, dass wir uns vernetzen und gemeinsam nach neuen Ansätzen suchen können.» Sieben von ihnen ergriffen vor dem Apéro (der Anlass ist übrigens gesponsert von der Heidi und Paul Guyer Stiftung) noch kurz das Wort und sprachen über ihre «Vision»:
Klimagruppe Stein
Kurt Löffel: «Wir haben uns nach dem ‘Nein’ zum CO2-Gesetz im Jahr 2021 formiert. Wir wollen einfach endlich etwas unternehmen. Seither haben wir diverse Aktionen durchgeführt. Im Frühling organisieren wir jeweils eine Blumen- und Samenbörse, mit den Schulen führen wir einen ‘Clean-Up-Day’ durch und wir haben mit der Gemeinde auch ein Biodiversitätskonzept ausgearbeitet. Unsere Hoffnung ist, dass wir im Dorf – oder im ganzen Hinterland – etwas bewegen können.»
Trogen Vielfalt / Naturnetz Speicher-Trogen
Fabienne Sutter: «Unsere Arbeitsgruppe ‘Trogen Vielfalt’ entstand 2023 aus der Energiekommission heraus. Seiter veröffentlichen wir in unserer Dorfzeitung ‘Trogner Info Post’ regelmässig Artikel zum Thema Biodiversität. Unsere Vision ist, dass 30 Prozent unserer Gemeindefläche biodivers werden. Kürzlich haben wir uns auch dem Verein Naturnetz Speicher-Trogen angeschlossen und verfolgen nun gemeinsame Projekte.»
«rechtobler natur»
Emanuel Hörler: «Uns gibt es schon ziemlich lange. Wir haben im Jahr 1999 angefangen, als Lokalgruppe von Pro Natura St. Gallen / Appenzell. Seither kümmern wir uns jedes Jahr um das Erstellen eines Amphibien-Haags beim Habset-Weiher oder die Waldpflege im Gupfloch und organisieren Vorträge zum Thema Natur und Biodiversität. Der nächste ist übrigens am 11. Januar während der ‘Rehetobler Tagung’. Und was unsere Vision ist? Wenn ich höre, dass es da ‘enet’ der Goldach auch so engagierte Leute gibt, wäre das vielleicht eine ‘bach-übergreifende’ Zusammenarbeit.»
«heiden-natur»
Ueli Rohner: «Auch wir sind eine Lokalgruppe von ‘Pro Natura’. Allerdings sind wir noch ziemlich jung. Wir haben uns als Reaktion auf die Fällung einer der vier grossen Linden beim Dunantplatz gegründet. Von Seiten der Gemeinde hiess es damals, der Baum müsse aus Sicherheitsgründen gefällt werden – dem war aber nicht so. Seither schauen wir genau hin und versuchen, der Natur eine Stimme zu geben. Ausserdem führen wir eine gut laufende – und vom Kanton bewilligte – Igelstation.»
«BirdLife Gais»
Röbi Nagel: «Wir sind eine Lokalgruppe von ‘BirdLife Schweiz’ und kümmern uns seit Jahren um die Pflanzung und Pflege von Hecken in und um Gais. Auch zu unserer Aufgabe gehört die Pflege eines Weihers im Moor- bzw. Naturschutzgebiet. Wir arbeiten auch eng mit dem Wald-Erlebnisraum Gais zusammen, bei dem jährlich bis zu 70 Schulklassen einen Unterrichtstag ‘im Wald-Schulzimmer’ verbringen. Unsere Hoffnung ist vor allem, das Wissen um den Reichtum der Natur weiter zu verbreiten. Übrigens: Am 21. November zeigt Jost Schneider bei uns seinen Dachs-Film – der Anlass ist öffentlich.»
«Ornithologische Gesellschaft Herisau u. Umgebung»
Nicolo Schwarzenbach: «Uns gibt es schon seit 1888. Allerdings hatten wir nicht immer die gleiche Aufgabe. Mittlerweile kümmern wir uns schon seit vielen Jahren um den Erhalt und die Neupflanzung diverser Hecken – darunter die schönste und zweitschönste Ausserrhodens. Ein weiteres grosses Anliegen ist die Förderung des Mauersegler-Bestands. Seit 1998 haben wir rund 600 Mauersegler-Brutplätze geschaffen. Im Jahr 2016 waren wir zudem bei der Erarbeitung des Biodiversitäts-Konzepts von Herisau dabei. Das ist nun seit 2023 in der Umsetzungsphase.»
«Aktion für Biodiversität in Teufen»
Andreas Kuster: «Wir traten zum ersten Mal im Januar 2021 in Erscheinung: mit einem Gastbeitrag in der ‘Tüüfner Poscht’. Auf dem Titelbild war damals übrigens ein Trauerschnäpper-Weibchen abgebildet. Seither publizieren wir jeden Monat einen Beitrag zum Thema Biodiversität in der ‘Tüüfner Poscht’ und organisieren einmal pro Monat eine ‘BiodiversiTAT’. Unsere Hoffnung ist, dass jede Teufnerin und jeder Teufner 10 Prozent seines Gartens – oder Einflussbereichs – der Biodiversität zur Verfügung stellt. Unsere Vision geht aber noch etwas weiter: Wir wünschen uns die Rückkehr der früheren Baumlandschaft.»