
Herr Hummler, zuerst will ich natürlich wissen: Gab es auch ein Selfie?
Nein. Ich sehe auf Selfies immer schrecklich aus. Ich beherrsche wohl die nötige Technik nicht.
Auch kein Gespräch?
Auch nicht. Ich habe ihm aber sehr genau zugehört. Vor allem, wenn er von seinem Manuskript abgewichen ist – das waren sowieso die spannenden Momente. Es war eine besondere Chance zu einer 1:1-Begegnung mit einer historischen Person. Die wollte ich wahrnehmen.
Aber Sie verfolgen Javier Milei schon länger.
Während einer Tagung in Bretton Woods im Herbst 2023 wurden wir von Vertretern einer lateinamerikanischen Universität über die spannende Ausgangslage der Präsidentschaftswahl in Argentinien informiert – und über das Wahlprogramm von Javier Milei. Seither bin ich sehr an den Geschehnissen dort interessiert.
Das zeigt eben auch, mit was für massiven Einschränkungen der Mensch klarkommen kann, wenn er Aussicht auf eine zukünftige positive Entwicklung hat.
Die Wahl gelang ihm dann Ende November 2023. Nun ist er seit etwas mehr als einem Jahr im Amt.
Schon die Wahl war aussergewöhnlich. Es ist sehr selten, dass jemand mit so einem radikal-liberalen Programm gewählt wird – ohne sich dabei irgendwelche Wahlgeschenke zu «erkaufen». Ich habe ehrlich gesagt schon fast erwartet, dass er sich ziemlich rasch korrumpieren lässt.
Warum? Weil das alle tun?
Genau. Umso faszinierender war es zu beobachten, dass das bei ihm einfach nicht passiert. Er blieb seiner Linie bis jetzt konsequent treu. Man muss aber auch sagen: Die Ausgangslage dafür war in Argentinien ideal.
Das müssen Sie erläutern. Das Land war ja wirtschaftlich am Boden. Inflation von 200 Prozent, Armutsquote von über 45 Prozent.
Das ist es ja eben: Die Situation war so schlimm, dass der radikale Ansatz von Milei genau die richtige Wahl war. Die Kettensäge. Ich frage mich übrigens häufig, wer ihm während des Wahlkampfs diese Idee gesteckt hatte – brillant.
Staatsabbau und Sparkurs tun aber in erster Linie weh.
Natürlich. Das hat Milei ja auch immer gesagt. Aber eben auch sonst trat bisher alles ein, was er vorausgesagt hat. Manchmal sogar noch schneller als vermutet. Seine Strategie funktioniert.
Vermutlich hält ihm die Bevölkerung deshalb bis jetzt die Stange. Das ist ja schon erstaunlich, wenn man bedenkt, was er alles streicht.
Das zeigt eben auch, mit was für massiven Einschränkungen der Mensch klarkommen kann, wenn er Aussicht auf eine zukünftige positive Entwicklung hat. Und es gibt ja wie gesagt auch schon positive Entwicklung. Allen voran die massive Abbremsung der Inflation.
Damit wären wir bei dem ökonomischen Stichwort, zu dem ich Sie befragen wollte. Möglichst kurz: Was ist Inflation?
Die Verwässerung eines Versprechens.
Das war jetzt vielleicht doch etwas zu kurz.
Gemeint ist das Geldversprechen. Die Währungshüter versprechen Ihnen, dass die Währung in einem Jahr noch gleich viel wert sein wird wie heute. Im Falle einer Inflation stimmt das aber nicht mehr. Es wurde mehr Geld gedruckt und die Währung ist dann weniger wert. Sie wurde verwässert und damit auch das Versprechen. Und wer damit rechnet, dass sein Geld in Zukunft weniger wert sein wird, arbeitet unbewusst daran mit, diese Erwartung auch zu erfüllen.
Inwiefern?
Nun, was tut man, wenn man erwartet, dass das Geld bald weniger wert sein wird? Man wandelt es in Realwerte um. Diese «Überhitzung» kann zu einer Hyperinflation führen, während der die Währung fast wertlos wird. Dann hilft nur noch ein «Schnitt», sprich eine komplette Neuausrichtung der Währung.
Sie nannten das Drucken von Geld als Inflationstreiber. Gibt es auch andere?
Zum Beispiel Aussenzölle oder Preisanstiege bei essenziellen Importgütern wie Erdgas oder Erdöl. Das sind dann sogenannte exogene Schocks. Dabei spielt die angesprochene Erwartungshaltung der Bevölkerung aber weniger eine Rolle und sie sind meist temporärer Natur.
Für Rentnerinnen und Rentner ist es äusserst wichtig, dass die Nationalbank ihr Versprechen einhält und eine zurückhaltende Geldpolitik betreibt. Sonst sind ihre Renten plötzlich deutlich weniger wert.
Während der Lohnverhandlungs-Zeit spricht man auch häufig von der Teuerung. Das hat aber mit der Inflation nichts zu tun, oder?
Kann, aber muss nicht. Teuerung kann auch einfach von einer Kostensteigerung herrühren, zum Beispiel Preissteigerung bestimmter Güter oder eines ganzen Sektors. Es kann durchaus sein, dass die Energiekosten sinken, während die Gesundheitskosten steigen. Oder andersrum.
Im Fall von Argentinien war die Inflation vor Milei bei über 200 Prozent. Inzwischen ist sie schon unter 100. Im Vergleich dazu betrug sie in der Schweiz im Jahr 2024 im Schnitt 1.1 Prozent. Wäre die «perfekte» Inflationsrate 0?
Die Inflation um 0 Prozent zu halten, ist sehr schwierig. Aber vermutlich wäre das optimal, ja. Die westlichen Notenbanken waren in den vergangenen Jahren vor allem damit beschäftigt, gegen eine drohende Deflation vorzugehen – also dem Gegenteil einer Inflation. Das hielt ich für eine falsche Strategie.
Das heisst, die Notenbanken wollten verhindern, dass unser Geld plötzlich mehr wert ist?
Sozusagen. Dazu gehörte die Strategie der Negativzinse. Ich vermute allerdings, dass diese Analyse der Notenbanken auf falschen ökonomischen Grundlagen basierte. Viele unserer Güter wurden während der vergangenen Jahre deutlich besser und billiger. Das war vermutlich der potentere Treiber als eine Deflation. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Jetzt wird, vor allem in den USA, wieder die Inflation bekämpft.
Sie spielen mir in die Hand, ich wollte fragen: Wie messen wir «Inflation» und «Deflation» eigentlich?
Das wichtigste Werkzeug ist der Konsumentenpreisindex. Darin bleibt ein Ei immer ein Ei und eine Matratze immer eine Matratze. Wenn sich aber das wirtschaftliche Umfeld völlig verändert und mit ihm die Art und Verfügbarkeit der Produkte, wird dieser Index rasch problematisch. Stellen Sie sich nur vor, wie viel sie vor 10 Jahren für ein Smartphone hätten bezahlen müssen, das kann, was Ihres heute kann.
Anders gesagt: So richtig genau sind diese Zahlen nicht?
Nein. Das ist immer ein Herantasten. Wobei der Konsumentenpreisindex der Realität wohl schon am nächsten kommt.
Trotzdem sind das die Grundlagen für die nationale Geldpolitik. Ist es denn für mich als «Durchschnittbürger» überhaupt relevant, ob unsere Nationalbank grad Inflation oder Deflation bekämpft?
Sehr sogar. Vor allem, wenn Sie über wenig finanzielle Reserven verfügen. Ich denke da insbesondere an Rentnerinnen und Rentner. Für sie ist es äusserst wichtig, dass die Nationalbank ihr Versprechen einhält und eine zurückhaltende Geldpolitik betreibt. Sonst sind ihre Renten plötzlich deutlich weniger wert.
Bei uns funktioniert die Trennung zwischen Politik und Nationalbank sehr gut. Das ist aber nicht bei allen Nationalbanken so.
Ich schlage wieder den Bogen zu Javier Milei. Ich habe gelesen, am 24. Januar gab es eine «Standing Ovation», als er von der Abschaffung der Nationalbank sprach.
Stimmt. Er ist der Ansicht, dass die Notenbank in Argentinien fast inhärent durch die Politik missbraucht wird. Das bedeutet: Wann immer das Land in einer finanziellen Schieflage ist, wird die Politik versuchen, Geld zu drucken beziehungsweise zu verteilen. Diese kurzfristige Lösung führt aber natürlich zu Inflation und Preisschocks – während und nach Corona war das besonders in Amerika der Fall.
Hat er damit recht?
Nun, das Risiko ist mindestens in den Schwellen- und Entwicklungsländern nicht von der Hand zu weisen. Die Versuchung ist sicher gross.
Und in der Schweiz?
Bei uns hat sich das System immerhin bereits über 100 Jahre bewährt. Hier funktioniert die Trennung zwischen Politik und Nationalbank sehr gut. Das ist aber nicht bei allen Nationalbanken so. Bei der amerikanischen FED oder der Europäischen Zentralbank (ECB) sind gewisse Tendenzen zu erkennen, die unverkennbar auf politische Einflussnahme hindeuten.
Will Javier Milei deshalb den Dollar einführen?
Er hat auf jeden Fall über die Einführung anderer, frei wählbarer Währungen gesprochen.
Wäre das möglich? Die Einführung einer komplett unabhängigen Währung?
Klar. Führer gab es viele solcher Währungen. Vor der Einführung der heutigen Geldpolitik.
Die waren aber unterlegt. Mit Gold oder Silber.
Nicht alle, aber im Idealfall waren sie das, ja. Die heutige Geldlehre hat allerdings gezeigt, dass es eine solche Unterlegung nicht zwingend braucht. Viel wichtiger ist die Glaubwürdigkeit. Deshalb funktionieren auch Kryptowährungen wie Bitcoin so gut: Sie geben über den Algorithmus sozusagen ein eisernes «Nicht-Verwässerungs-Versprechen». Sie werden deshalb genutzt, obwohl hinter ihnen eigentlich nichts steht.
Dieser Handelspoker ist schädlich für alle, die einen Nutzen aus der Globalisierung gezogen haben. Und auf dieser Liste steht die Schweiz ziemlich weit oben.
Ein anderes Milei-Thema sind die Subventionen. Damit kennen wir Schweizer uns ja auch ganz gut aus.
Bei uns spielen Subventionen eine wichtige Rolle, ja. Ein Vergleich mit Argentinien macht aber hier weniger Sinn. Dort verteilte man munter weiter, obwohl der Staat gar kein Geld mehr hatte. Wir sind diesbezüglich in einer anderen Situation. Und natürlich kann man über die Bauern schimpfen. Aber Tatsache ist, dass wir – auch dank den Umverteilungen via Subventionen – einen ziemlich hohen Selbstversorgungsgrad und eine gepflegte Landschaft haben. Und das ist natürlich nur ein Beispiel.
Aber die Subventionen können auch bei uns aus dem Ruder laufen.
Da stellt sich eben die Frage, ob es eine Möglichkeit gibt, dem Subventions-Rad, das sich immer schneller dreht und immer grösser wird, eine andere Dynamik zu geben. Sonst droht, was in Frankreich passiert: dass die Staatseinnahmen nicht mehr ausreichen. Aber in der Schweiz haben wir diesbezüglich gute Institutionen. Dazu gehören die Finanzkommissionen des Bundes und der Kantone, die GPKs und das Volk.
Wenn ich schon hier bin, muss ich natürlich auch nach Trump fragen. Machen Ihnen die Zoll-Drohungen Sorgen?
Dieser Handelspoker ist schädlich für alle, die einen Nutzen aus der Globalisierung gezogen haben. Und auf dieser Liste steht die Schweiz ziemlich weit oben. Wenn solche Zölle kämen, würde das zu massiven Marktverzerrungen führen. Aber vor allem ist es ein Bruch mit der WTO und der wirtschaftlichen Weltordnung, auf die man sich vor Jahrzehnten geeinigt hatte. Das scheint während der vergangenen zehn Jahre sowieso immer mehr vorzukommen; das Rütteln an Grundsätzen. Man muss aber auch relativieren: Der Aussenhandel der USA ist – mindestens vergleichsweise – klein.
Sie sprachen das schon fast salonfähige Rütteln an Grundsätzen an. Seien das Territorialansprüche, radikale politische Programme oder Handelskriege. Das geht oft einher mit der Machtergreifung populistischer Politiker. Das stellt sich die Ei-Huhn-Frage.
Vielleicht liegt es vor allem daran, dass viele Probleme schlicht lange ignoriert wurden. Damit wurde diese Wachablösung gefördert. Wir befinden uns vermutlich in einer Zeitenwende. Entscheidend ist für mich, ob unserer Institutionen diesem Wandel standhalten werden. Wird das eigentlich sehr unabhängige amerikanische Justizsystem wanken? Das deutsche Bundesverfassungsgericht? Wird die Gewaltenteilung auch in Zukunft eingehalten? Das sind die entscheidenden Fragen. Ich bin aber der Ansicht, unsere Demokratien sollten auch mit einigen «ungezügelteren» Kräften umgehen können.