Hanspeter Spörri*
Um 1960, als Kindergärtler oder Erstklässler, begann ich Teufen als mein Dorf wahrzunehmen. Hans Höhener war schon da, ein Sekundarschüler, der sich Zeit für uns Kinder nahm. Als ich einmal zusammen mit Gleichaltrigen vor dem Schlachthaus der Metzgerei Anker stand und das angebundene Tier betrachtete, erklärte er uns, dass das Kälblein sterben müsse. Das sei traurig. Aber wenn man Fleisch essen wolle, sei das halt so. Ich weiss noch, dass mich das empörte. Aber Hans schien mir unglaublich vernünftig zu sein. Wir schauten zu ihm auf.
Näher kennen lernte ich ihn Jahre später, als er mir, dem unkonzentrierten Sekundarschüler, ein paar Nachhilfestunden gab. Den Schulstoff behandelten wir nur nebenbei. Lange diskutierten wir über die Frage der Unendlichkeit, die auch in der Geometrie eine Rolle spielt, darüber, ob ein unendlich grosser Kreis identisch mit einer Geraden sei. Das ist keine leicht zu beantwortende Frage, und ich erinnere mich heute noch an das metaphysische Gruseln, das sie bei mir auslöste.
Und so blieb ich Hans Höhener ein Leben lang verbunden: Über das gemeinsame Interesse an Fragen, die sich nicht auf einfache Art beantworten lassen. Natürlich begegnete ich ihm früher oft im Café Spörri. Turner und Studenten feierten ausgelassene Feste. Hans sang und zauerte jeweils aus vollem Herzen. Es wurde häufig spät, aber meine Eltern wussten, dass man dem Hans den Schlüssel ohne Sorgen überlassen durfte. Zwar wurde an diesen Festen reichlich Alkohol getrunken. Aber Hans war vernünftig, trank nie zuviel oder liess es sich jedenfalls kaum anmerken, dass es zuviel war.
Eine frühe politische Diskussion, an die ich mich bis heute erinnere, führten wir, als ich vor der militärischen Aushebung stand. Es ging darum, ob Dienstverweigerung zu rechtfertigen oder vielleicht sogar eine moralische Pflicht sei. Das müsse ich selbstverständlich für mich selber entscheiden, beschied er mir. Die Armee allerdings sei kein Instrument der Aggression, sondern eine Institution für den extremen Notfall. Ich schätzte es sehr, dass der aus meiner damaligen Sicht konservative Student, der mit Leidenschaft Militärdienst leistete, diese Frage mit mir so ausgiebig, gründlich und vorurteilsfrei diskutierte.
Rückblickend erstaunt mich dieser Hans Höhener. Er war schon damals, was er heute ist: ein Mann, mit dem ich über alles, wirklich über alles diskutieren kann, der sich für kleine und grosse Themen interessiert, dem das Dorf, der Kanton, das Land, die Gesellschaft am Herzen liegen. Und wie schon bei dem Gespräch über die Gerade und den Kreis scheint er eine Vorliebe für schwierige Fragen zu haben und sucht auch mitten in allergrössten Widersprüchen stets den Ausgleich, die Lösung, zu der alle ja sagen können.
Dabei ist er kein Feigling. Ich habe erlebt, wie er für das Frauenstimmrecht eintrat. Da war kein Kompromiss möglich, und Hans bekam von Gegnern Sätze zu hören, die diesen heute selber peinlich sein müssen, wenn sie sich noch daran erinnern.
Hans liess sich nicht beirren. Dank ihm wurde ich Journalist. Es gibt keinen besseren Beruf für jemanden, der lieber Fragen stellt als Antworten gibt. Und dass dies bei mir so ist, entdeckte ich auch dank Hans Höhener. Meine allerersten Zeitungstexte schrieb ich für ihn, der damals neu Redaktor des Appenzeller Tagblatts geworden war. Zusammen hatten wir im Redaktionsbüro – in den Räumen der heutigen Drogerie Michel – wunderbar kreative Redaktionssitzungen. Immer ging es hektisch zu und her; der tägliche Redaktionsschluss war stets viel zu früh. Aber trotzdem blieb Zeit für einen raschen Gedankenaustausch oder ein Spässchen.
Vermutlich erlebte ich mit Hans das, was auch Sportlerinnen und Sportler mit ihm erlebten: Er war und ist ein ungemein motivierender und aufbauender Coach. Hans Höher ist ein höchst politischer Zeitgenosse. Meine erste Landsgemeinde erlebte ich als Jugendlicher mit ihm. Der Weg nach Trogen war für mich eine eigentliche Staatskundelektion. Hans zeigte mir, wie wichtig in einer Demokratie der Prozess des Aushandelns ist. Ich glaubte deshalb, er sei für die Politik wie geschaffen. Heute weiss ich, dass das nicht stimmt, trotz seiner eindrücklichen politischen Karriere. Ihm fehlt etwas, ohne das man es in den Schlangengruben der Politik schwer hat: ihm fehlt der Killerinstinkt. Leider geht es im politischen Alltag immer weniger um das Austarieren gegensätzlicher Interessen und unterschiedlicher Bedürfnisse, sondern um blosse Macht; darum, den politischen Gegner auszuschalten und den Schwarzen Peter elegant weiterzureichen. Am Ende hatte Hans diesen in der Hand, unverdient. Allerdings ist er zäh und ausdauernd, Kurz- und Langstreckenläufer zugleich. Und so ging er weiter seinen Weg, blieb sich treu und dem Dorf erhalten. Ich ziehe den Hut!
*Der frühere Chefredaktor des Berner «Bund», Hanspeter Spörri, ist freischaffender Journalist und Publizist und lebt in Teufen, wo er aufgewachsen ist.