Herr Eugster, ich habe gehört, Sie haben Fotos von Riss und Wolf …
Wir haben den Riss natürlich mit Fotos dokumentiert. Und ihn nach dem Fund am Dienstag noch eine Nacht liegen gelassen. Die installierte Foto-Falle hat dann aber leider beim Zurückkehren und erneuten Fressen nicht ausgelöst. Immerhin: Als der Wolf in der Nacht darauf nochmal da war, haben wir ihn erwischt – wenn auch etwas unscharf.
Macht die menschliche Präsenz um einen Riss den Wolf nicht nervös? Man würde meinen, der kommt dann nicht mehr zurück …
Wölfe und Luchse sind da tatsächlich nicht allzu empfindlich. Sie merken natürlich, dass sich da Menschen um seinen Riss bewegt haben. Aber das hält ihn nicht vom Zurückkehren und Fressen ab. Er würde das Tier vermutlich vollständig nutzen, wenn man es dort belassen würde. Im Idealfall machen wir das deshalb auch. Was gerissen wurde, soll auch verwertet werden. Aber in diesem Fall mussten wir den Kadaver nach einer Nacht fachgerecht entsorgen. Wegen der Nähe zu Bach und Siedlung.
Der Wolf mag zwar nicht per se Angst vor dem Menschen haben, aber er ist auch nicht aggressiv. Vielleicht mal etwas neugierig. Das ist alles.
Wie schwer ist so ein Schafbock?
Genau kann ich das nicht sagen. Wir haben ihn nicht gewogen. Aber das war ein starkes Tier. Ich würde schätzen irgendwas zwischen 80 und 90 Kilo.
Das ist eine ziemliche Menge Fleisch. Wie viel kann so ein Wolf in einer Mahlzeit fressen?
Ein erwachsener Wolf frisst täglich etwa 4 Kilogramm Fleisch. Er ist ein Schlinger. Das heisst, er frisst sich regelrecht voll. Auf Fotos erkennt man sogar den «aufgeblähten» Bauch eines Wolfs nach dem Fressen. Wäre er ungestört geblieben, hätte er eventuell noch ein paar Nächte weitergefressen.
Der Riss passierte rund 130 Meter von der Alten Speicherstrasse entfernt. Das ist zwar nicht mitten in der Stadt, aber auch nicht auf einer Alp. Scheut der Wolf Siedlungen nicht?
Der Wolf ist grundsätzlich dort, wo seine Nahrung ist. Ausserdem verknüpft er den Menschen nicht generell mit etwas Negativem, Gefährlichem. Das hat einerseits mit der eher zurückhaltenden Bejagung der vergangenen Jahrzehnte und andererseits mit dem Vorkommen von Nahrung rund um menschliche Siedlungen zu tun.
Die Route eines solchen Wolfs vorherzusehen, ist fast unmöglich. Er könnte sich noch in der Region aufhalten oder bereits weit weg sein.
Muss ich mir jetzt Sorgen um mich oder meinen Hund machen, wenn ich im Steineggwald spazieren gehe?
Nein. Der Wolf mag zwar nicht per se Angst vor dem Menschen haben, aber er ist auch nicht aggressiv. Vielleicht mal etwas neugierig. Das ist alles. Und wegen des Hundes: Bei diesem Wolf handelt es sich fast sicher um ein männliches Jungtier auf Durchzug. Das bedeutet, er verteidigt kein Revier und ist demnach auch für Hunde keine Gefahr. Laufen Hunde im Revier eines Wolfsrudels frei herum, sieht die Sache etwas anders aus.
Männliche Jungwölfe begeben sich auf Wanderschaft auf der Suche nach einer Partnerin und einem neuen Revier. Dabei legen sie erstaunliche Distanzen zurück. Ist dieser Wolf noch im Appenzellerland?
Das weiss niemand. Die Route eines solchen Wolfs vorherzusehen, ist fast unmöglich. Er könnte sich noch in der Region aufhalten oder bereits weit weg sein. Klar ist aber: Bis jetzt haben wir im Appenzellerland noch keine sesshaften Wölfe bzw. Rudel.
Aber das könnte sich ändern. Oder ist die Region zu dicht besiedelt?
Auch hier traue ich mir keine Vorhersage zu. Aber der Wolf lässt sich grundsätzlich dort nieder, wo er Nahrung hat. Die findet er hier. Und er ist sehr anpassungsfähig. Möglich ist es also. Auch sicher ist, dass der Wolfsbestand in der Schweiz in den kommenden Jahren weiter zunehmen wird – trotz der Abschüsse. Es könnte also sein, dass wir in den nächsten zwei Jahren bereits ein sesshaftes Rudel haben. Es könnte aber auch noch zehn Jahre dauern.
Sie haben, wie bei so einem Riss üblich, DNA-Proben genommen. Um sicher zu sein, dass das ein Wolf war?
Nein. Die Einschätzung des Risses wird von der Wildhut vor Ort gemacht. Anhand des Rissmusters lässt sich sehr einfach feststellen, welches Tier hier am Werk war. Die DNA-Probe wird zur individuellen Identifizierung genutzt. Dabei geht es um das Monitoring. Das wird beispielsweise wichtig, wenn ein Wolf gelernt hat, Herdenschutzmassnahmen zu umgehen.
Der Wolf ist instinktgetrieben. Und wenn sich um ihn herum beim Fressen etwas bewegt, löst das bei ihm einen entsprechenden Jagdinstinkt aus.
Und was unterscheidet denn nun eine Luchs- von einem Wolfsriss?
Der Luchs tötet vorzugsweise mit einem gezielten Kehlkopf-Biss und wenig Gewalt. Dort laufen viele Nervenstränge durch und das Tier stirbt rasch. Da sieht man dann manchmal wirklich nur die vier Einstichlöcher der Reisszähne. Den Wolf erkennt man an der Gewalt. Er verbeisst sich mit einer unglaublichen Kraft im ganzen Halsbereich. Kommen ihm dabei Knochen oder Wirbel in die Quere, zerdrückt er diese einfach. Beim Begutachten des Risses erkennt man das vor allem am massiv blutunterlaufenen Gewebe. Das ist auch ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zum Fuchs.
Weil?
Der Fuchs nutzt bzw. frisst oft tote Tiere. Und bei einem toten Tier kommt es zu keinen Blutansammlungen mehr. Übrigens: Obwohl der Hund vom Wolf abstammt, sind seine Risse auch deutlich unterscheidbar. Ein Hund hat weder den gleichen Tötungsinstinkt noch – in der Regel – die Beisskraft eines Wolfs. Er «schnappt» deshalb eher überall am Körper statt zielsicher im Halsbereich.
Dieser «Tötungsinstinkt» des Wolfs führt auch immer wieder zu Diskussionen.
Sie sprechen von Fällen, bei denen mehrere Tiere getötet werden? Das ist für den Landwirt bzw. Besitzer der Tiere natürlich tragisch, dafür habe ich vollstes Verständnis. Der Wolf kann aber wenig dafür. Er ist instinktgetrieben. Und wenn sich um ihn herum beim Fressen etwas bewegt, löst das bei ihm einen entsprechenden Jagdinstinkt aus. In der Wildnis ist das kein Problem: Reisst er ein Reh, flüchten alle anderen. Bei Nutztieren ist das nicht der Fall. Einerseits wurde der Fluchtinstinkt gezielt «herausgezüchtet», andererseits sind sie eingezäunt.
Apropos Zaun: In diesem Fall gab es keinen. Und der Wolf riss nur den einen Schafsbock. Also war die fehlende «Herdenschutzmassnahme» vielleicht sogar ein Vorteil?
Das ist ein Argument, ja. Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass es mit einem entsprechenden Zaun vielleicht gar nicht zu diesem Vorfall gekommen wäre. Das ist natürlich eine heikle Diskussion.
Die Ausserrhoder Landwirte sind bezüglich Wolf bzw. Raubtieren und Herdenschutz sehr gut informiert. Sie wissen, dass wir hier jederzeit mit einem durchziehenden Wolf rechnen müssen.
Mir wurde vorhin aber gerade von einem Fachmann für Versicherungen in der Landwirtschaft erklärt, dass der Besitzer für den Riss wohl auch ohne Herdenschutzmassnahmen entschädigt wird. Stimmt das?
Das ist richtig. Heute ist es so, dass die Besitzer in Regionen, in denen der Wolf nicht ständig heimisch ist, in jedem Fall für den Verlust des Tieres entschädigt werden. Der Riss wird dem Wolf aber ohne Herdenschutzmassnahmen nicht «angerechnet». Das bedeutet: Ein Wolf kann theoretisch 100 ungeschützte Nutztiere reissen und wird deshalb nicht zum Abschuss freigegeben. Dazu muss man aber auch sagen: Das ist der aktuelle Stand. Die Politik setzt sich ständig mit diesem Fragen auseinander. Ich rechne damit, dass sich die Situation in Zukunft verändert, und ungeschützte Tiere nicht entschädigt werden.
Letzte Frage: In der Mitteilung des Kantons steht, man habe «die Ausserrhoder Tierhaltenden mit einem SMS-Alarm über die Wolfspräsenz informiert». Erhalten Sie da alarmierte Reaktionen?
Nein. Die Ausserrhoder Landwirte sind bezüglich Wolf bzw. Raubtieren und Herdenschutz sehr gut informiert. Sie wissen, dass wir hier jederzeit mit einem durchziehenden Wolf rechnen müssen. Bei dieser Mitteilung geht es mehr um Transparenz. Der Kanton will nichts verschweigen und die Bevölkerung soll und darf wissen, dass hier ein Wolf durchgezogen ist.