Das Unfassbare kartieren

26.04.2024 | Timo Züst

Julian Adamek ist Professor für Kosmologie an der Universität Zürich. Das bedeutet, er sucht nach Antworten auf die Frage, wie das Universum «als Ganzes» funktioniert. Mit was für unvorstellbaren Dimensionen er sich dabei beschäftigt, erzählt er am Donnerstagabend im Zeughaus. Und zeigt dabei faszinierende Bilder des (relativ) neuen Weltraumteleskops Euclid.

1830, Paris: Die Julirevolution gegen König Karl X. 1848, ebenfalls Paris: Die Februarrevolution und der der Juniaufstand münden schliesslich in der Wahl Napoleons als Staatspräsidenten. 1848, Wien: Die Oktoberrevolution wird von den kaiserlichen Truppen niedergeschlagen. 1849, Dresden: Die Demokratiebewegung in Sachsen weitet sich aus, die Bevölkerung geht auf die Strasse.

Im Zeughaus wird seit drei Wochen der Aufstand geprobt. Die Ausstellung «Protest/Architektur» zeigt ein Kaleidoskop verschiedenster Protestbewegungen der Menschheitsgeschichte. Mit Fokus auf deren immer wiederkehrende, architektonische Typologien. So weit zurück wie Julian Adameks Erzählungen reicht aber keines der Beispiele: «Hier befinden wir uns so ungefähr im Jahr 650 n.Chr.. Da war in dieser Region wohl gerade Gallus aktiv.» Vom 4K-Bildschirm hinter dem Kosmologie-Professor leuchtet den Zuschauenden ein faszinierendes Foto entgegen – aufgenommen vom Weltraumteleskop «Euclid». Darauf zu sehen ist der Pferdekopfnebel. «Er ist ziemlich nah, ist Teil unserer Milchstrasse, rund 1375 Lichtjahre entfernt.» Das bedeutet: Wäre ein Raumschiff mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs (299’792’458 Meter pro Sekunde bzw. 1.08 Milliarden km/h), würde die Reise zum Pferdkopf 1375 Jahre dauern. «Deshalb müssen wir bei der Kartographie des Universums die ‘Extra-Dimension’ Zeit miteinberechnen. Das Licht dieser fernen Sterne und Galaxien musste schliesslich auch erst zu uns wandern. Wir blicken also in die Vergangenheit.» Das nächste Bild: der Kugelsternhaufen NGC 6397. 7800 Lichtjahre entfernt, in Europa erlernt der Mensch gerade die Landwirtschaft. «In galaktischen Massstäben immer noch sehr nah. Aber eine spannende Konstellation: In solchen Kugelsternhaufen finden sich mit die ältesten Sterne des Universums.»

Der Blick in die Sterne ist eine Art Erlösung. Er offenbart, wie klein wir sind bzw. wie gross das da draussen ist.

Kurator David Glanzmann

Die Physiker spricht erst seit wenigen Minuten. Das hat gereicht, um die Zuschauenden in seinen Bann zu ziehen. Niemand schenkt den «Revolutionen» im Raum Beachtung. Die Augen sind auf den Bildschirm geheftet. «Wie das zusammenpasst? Die Idee ist ein Perspektivenwechsel.» Erklärt der Kurator David Glanzmann während eines kurzen Kaffees vor dem Vortrag. «Wir Menschen neigen dazu, völlig von uns und dem, was uns unmittelbar umgibt, eingenommen zu werden. Dann sehen wir nur noch, was hier gerade passiert. Der Blick in die Sterne ist da eine Art Erlösung. Er offenbart, wie klein wir sind bzw. wie gross das da draussen ist.»

Der grosse Tag war der 1. Juli 2023. Um 15:12 UTC (Koordinierte Weltzeit) startete die Rakete «SpaceX Falcon 9 Block 5» von Cape Canaveral in Florida. An Bord: das Weltraumteleskop Euclid der ESA (Europäischen Weltraumorganisation). «Davor kamen wir nochmal ziemlich ins Schwitzen. Denn eigentlich hätte das Teleskop von einer russischen Rakete transportiert werden sollen. Aber wegen des Angriffs auf Europa war das dann nicht mehr möglich. Also musste eine kurzfristige Lösung her.» Für den 42-jährigen Julian Adamek war dieser Launch-Tag auch der vorläufige Höhepunkt eines «Karriere-Projekts». Im Jahr 2011, nach intensiver Vorarbeit der Forschenden, stimmte die ESA «Euclid» zu – Kostenpunkt ca. 2 Mia. Franken. Zwei Jahre später kam Adamek zum Projekt. «Die Vorfreude auf die ersten Bilder war natürlich riesig.» Und diese Bilder sind einzigartig, wie die Mission des Teleskops. Dessen Aufgabe ist das Kartografieren des beobachtbaren Universums. Rund ein Drittel des für uns sichtbaren Himmels soll es abfotografieren.

Einige der ersten Aufnahmen des Weltraumteleskops Euclid. Mehr davon finden Sie auf der ESA-Website: www.esa.int Fotos: ESA

Möglich ist das nur dank einer Hochleistungskamera mit 600 Megapixeln – und beeindruckender Präzision. «Eine Belichtung dauert mehrere Stunden. Dabei muss das Teleskop möglichst regungslos gehalten werden.» Die Sensoren sind so empfindlich, dass kleine Gasdüsen sogar die «Aufprall-Energie» der Sonneneinstrahlung, die via Solarzellen in Strom umgewandelt wird, korrigieren müssen. Aber nicht nur die grosse «Pixel-Dichte» (pro Tag schickt Euclid rund 100 GB Daten zur Erde) ist ein Vorteil. Auch die Grösse der Fotos hilft beim Bewältigen der kosmischen Aufgabe. «Im Vergleich zu anderen Teleskopen wie ‘Hubble’ oder ‘James Webb’, die eher in die Tiefe bzw. die ferne Vergangenheit schauen, deckt Euclid pro Aufnahme die 260-fache Fläche ab», erklärt Julian Adamek. Trotzdem: Die Kamera wird während fünf Jahren ein Foto nach dem anderen schiessen müssen, um den angesprochenen Himmelsbereich zu fotografieren. «Darauf werden dann rund 1 Milliarde Galaxien zu sehen sein – nebst vielem anderen.»

Unvorstellbare Dimensionen. Und doch noch immer ein Bruchteil des (beobachtbaren) Universums. Denn Euclid sieht nur etwas mehr als 10 Mia. Jahre in die Vergangenheit. Das Universum ist aber rund 13.8 Mia. Jahr alt (Big Bang). «Ausserdem dehnt es sich ständig aus. Und paradoxerweise wird diese Ausdehnung schneller, je weiter wir uns von der Erde entfernen.» Irgendwann ist die Geschwindigkeit dieser Expansion so gross, dass uns das Licht nicht mehr erreicht. Dieser Teil des Universums entfernt sich also schneller von uns, als das Licht zu uns rasen kann. Er befindet sich hinter dem «kosmischen Horizont». Und für diese Bewegungen interessiert sich Julian Adamek.

Die Vorfreude auf das Frühjahr 2025 ist bei Julian Adamek und seinen Mitforschenden fast noch grösser als die damals vor dem Start. Denn dann werden sie die ersten «brauchbaren» Datensätze erhalten. «Jede Aufnahme ist faszinierend. Für mein Feld benötige ich aber möglichst grossräumige Daten.» Dieses Feld ist die Gravitation. Anders gesagt: Die Analyse derer Kräfte in galaktischen Massstäben. Das ist aus physikalischer Sicht spannend, weil die Gravitation grundsätzlich eine unendliche Reichweite hat. Das bedeutet: Zwar nimmt die Gravitationskraft eines Objekts ab, je weiter man sich davon entfernt, aber sie ist trotzdem noch messbar bzw. übt eine Wirkung aus. Diese Tatsache, in Kombination mit den gewaltigen kosmischen Dimensionen, könnte den Forschenden Einblicke in einige der grundlegendsten Fragen der Natur des Universums geben. «Wir erhoffen uns, mehr über die sogenannte ‘Dunkle Energie’ zu lernen. Sie spielt bei der Expansion des Universums eine entscheidende Rolle. Und wir wissen nicht, was genau sie ist.»

Bei uns spielt die geographische Herkunft keine Rolle. Amerikaner arbeiten Seite an Seite mit Iranern, Israelis mit Pakistanis. Das ist überhaupt kein Thema.

Kosmologe Julian Adamek

Julian Adameks Geduld mit den naiven Fragen des Lokaljournalisten ist bemerkenswert. Er hat grosses Verständnis für menschliche Neugier. Auf die Frage aus dem Publikum, wie man so eine «nicht direkt wirtschaftlich relevante Mission» denn finanziere, hatte er geantwortet: «Die ESA ist ein europäisches Gemeinschaftsprojekt. Jeder Staat leistet seinen Beitrag. Aber klar: Hier geht es nicht um eine Rendite. Der Grundantrieb ist wohl nach wie vor die menschliche Neugier.» Aber irgendwann muss auch der neugierigste Zuhörer mal mit dem Fragen-Bombardement aufhören. Noch eine letzte: Könnte uns der Blick zu den Sternen wohl helfen, als menschliche Gemeinschaft harmonischer zu existieren? «Er schafft sicher Perspektive. Ich kann nur für die Forschung sprechen: Bei uns spielt die geographische Herkunft keine Rolle. Amerikaner arbeiten Seite an Seite mit Iranern, Israelis mit Pakistanis. Das ist überhaupt kein Thema. Die Neugier verbindet. Und alle wissen, dass keine Nation so etwas wie Euclid alleine zustande bringen würde.»

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