Reto Eberhard Rast ist Arzt, Künstler und Präsident der «Schweizerischen Informationsplattform für Nahtoderfahrungen». Er spricht am Donnerstag in der Hechtremise. Foto: zVg
Am Donnerstagabend geht es in der Hechtremise um ein faszinierendes Thema: Nahtoderfahrungen. Das Forum Palliative Care Rotbachtal hat Claire Stiefel und Reto Eberhard Rast eingeladen. Sie hatte als Kind eine Nahtoderfahrung. Er ist Arzt und befasst sich seit Jahren intensiv mit dem Phänomen. Die TP hat mit ihm gesprochen.
Herr Eberhard bzw. Herr Dr. Eberhard, auf Ihrer Website steht, Sie sind «ehemaliger» Arzt. Praktizieren Sie nicht mehr?
Das ist nicht ganz aktuell. Inzwischen arbeite ich wieder in meiner alten Praxis in Luzern. Ich hatte mich aber rund eineinhalb Jahre allein der Kunst gewidmet – da entstand auch diese Website.
Sie sind also ein malender Arzt. Aber auch Präsident der «Schweizerischen Informationsplattform für Nahtoderfahrungen». Wie kamen Sie dazu?
Wir haben diesen Ableger der internationalen Mutterorganisation «IANDS» mit Sitz in den USA im Jahr 2014 gegründet. Wie ich dazu kam? Nun, dieses Thema hat mich schon immer interessiert, da …
… Entschuldigung. Darf ich fragen: Woher rührt dieses Interesse?
Das kann ich nicht genau sagen. Es ist wohl genuin. Ich fand Paranormales und Grenzerfahrungen zwischen Leben und Tod schon immer faszinierend. Ich selbst hatte aber nie eine Nahtoderfahrung.
Warum braucht es diese Plattform überhaupt?
Je mehr ich mich über dieses Thema informierte, desto auffälliger wurde das Fehlen einer Info- und Anlaufstelle für Betroffene. Das ist insofern ein Manko, da solche Erfahrungen fast immer sehr bewegend bis hin zu traumatisierend sind. Ausserdem ist nach aktuellen Schätzungen rund 1 Prozent der Menschheit davon betroffen. Zum Vergleich: Ähnlich viele leiden an einer Schilddrüsenerkrankung. Und diese sind inzwischen sehr gut erforscht.
Aber es geht auch um die Information der breiten Öffentlichkeit. Wie hier in Teufen zum Beispiel.
Genau. Bei solchen Anlässen oder Vorträgen wenden wir uns an alle Interessierten und nicht nur an Menschen, die Nahtoderfahrungen gemacht haben.
Dann wollen wir mal einsteigen: Was ist denn nun eine Nahtoderfahrung? Wie definieren Sie das?
Gute Frage. Aus Sicht der Betroffenen stellt sie sich allerdings kaum. Sie wissen, dass sie eine einzigartige und transzendente Erfahrung gemacht haben. Für sie ist es eher wichtig, das Erlebnis benennen zu können und zu wissen, dass sie damit nicht allein sein. Eine allgemeingültige Definition zu finden, ist nicht ganz einfach. Was alle Nahtoderfahrungen gemeinsam haben, ist eben die unmittelbare Nähe des Todes. Das äussert sich unterschiedlich: Ein Bergsteiger, der für einen kurzen Moment glaubt, dass er gleich in den Tod stürzt, kann eine Nahtoderfahrung haben, ohne sich je zu verletzen. Das gleiche gilt für jemanden, der einen Hirnschlag oder Herzstillstand «aus dem Nichts» erleidet. Sie alle erleben das Gleiche.
Das Gleiche? Sind die Berichte nicht sehr unterschiedlich?
Stimmt, sogar sehr. Aber es gibt durchaus einige Gemeinsamkeiten. Beispiele wären die «Out of Body»-Experience, also das Beobachten des eigenen Körpers und Umfelds während man eigentlich bewusstlos ist. Oder das Gefühl, sich ausserhalb der sonst bekannten Zeit zu befinden. Und natürlich die klassische «Tunnel-Erfahrung». Oder das Lebenspanorama, also eine Art Rückschau auf das Leben. Auch das äussert sich in diversen Formen.
Das alles klingt versöhnlich, fast schön. Aber das gilt nicht für alle Nahtoderfahrung, oder? Es gibt auch das Gegenteil.
Man hört wirklich hauptsächlich positive Berichte. Das liegt einerseits sicher daran, dass es noch viel schwieriger ist, über Negatives zu berichten. Für einen Betroffenen stellt es eine grosse Herausforderung dar, von dieser Erfahrung, die man oft gar nicht in richtige Worte fassen kann und die sehr intim ist, zu erzählen. Auch wenn die Erfahrung positiv war. Und wenn sonst bloss von Schönem die Rede ist, schweigt man über eine Höllen-Vorstellung vielleicht lieber.
Wie schätzen Sie die prozentuelle Verteilung ein?
Schwierig. Eine Studie aus der ehemaligen DDR geht von einem Negativ-Anteil von über 55 Prozent aus. Aber bei dieser Studie wurden nicht nur Nahtoderfahrungen, sondern auch Deliriums-Zustände und Ähnliches einbezogen. Der tatsächliche Anteil ist also sicher kleiner. Wegen der grossen Dunkelziffer ist er aber kaum abzuschätzen. Er liegt wohl irgendwo zwischen 5 und 20 Prozent.
Und was sagen Sie denjenigen, die Nahtoderfahrungen mit einem Adrenalinschub bzw. einer Überaktivität des Hirns erklären?
Sowohl während des Wachzustandes wie auch im Schlaf finden wir im Hirn Prozesse, die zeitgleich und dazu passend stattfinden. Deshalb gehen wir davon aus, dass unser Hirn das Denken produziert. Bei Nahtoderfahrungen ist das aber anders.
Warum?
Weil sie bei einem hochaktiven Hirn – das Beispiel des Bergsteigers – genau wie bei einem Herzstillstand oder einem Kreislaufzusammenbruch vorkommen. Bei Letzteren verliert man innert Sekunden das Bewusstsein und das Hirn fährt komplett herunter. Trotzdem berichten Bertoffene von deutlich länger dauernden Erfahrungen. Viele beschreiben akkurat, was um sie herum passiert ist, andere erlangen telepathische Fähigkeiten und hören die Gedanken der Sanitäter.
Ich will hier nicht allzu tief in die Materie vordringen. Sie werden davon bestimmt am Donnerstag berichten. Aber Ihre Meinung interessiert mich jetzt doch: Glauben Sie an die «Realität» dieser Nahtoderfahrungen?
Davon war ich schon immer überzeugt. Es gibt schlicht zu viele übereinstimmende Erzählungen, als dass man sie ignorieren könnte. Und sie lassen sich mit einer rein materialistischen Weltanschauung nicht erklären. Wie soll eine Bewusstlose wissen, was um sie herum passiert? Wie kann jemand, der im Sterben liegt, jemanden im Geiste treffen, der vor wenigen Minuten gestorben ist – wohlgemerkt ohne davon zu wissen? Wie können terminale Demenzkranke in ihren letzten Momenten plötzlich so klar denken? Ich glaube, dass eine Form des Bewusstseins ausserhalb unseres Körpers existiert und wir in solchen Momenten Teil davon sind.
Die Folgefrage wäre: Wenn wir sterben, werden wir dann ganz Teil davon
Das ist eine naheliegende Schlussfolgerung. Und ja: Das denke ich. Übrigens: Wer diese Frage Menschen stellt, die eine Nahtoderfahrung hatten, erhält sowieso diese Antwort. Sie sind davon überzeugt, dass sie nach ihrem Tod dorthin zurückkehren.
Machen Sie sich keine Sorgen, mit dem Streuen dieser Gedanken eine Todessehnsucht in den Menschen zu wecken?
Nein, gar nicht (lacht). Ich habe als Arzt in verschiedenen Ländern in Afrika gearbeitet. Die Menschen dort sind extrem gläubig und davon überzeugt, dass es nach dem Tod weitergeht. Ausserdem sind ihre Lebensumstände hart. Aber die Suizid-Rate ist trotzdem tief. Ich denke, es ist eher die materialistische Weltanschauung, die uns krank und lebensmüde macht – nicht der Glaube an Paranormales oder Transzendentes. Aber was stimmt: Wer eine Nahtoderfahrung gemacht hat, wird danach oft Todessehnsucht begleitet. Kinder oder Jugendliche, die eine Nahtoderfahrung erlebt haben, weisen sogar eine erhöhte Suizidrate auf. Sie haben oft grosse Schwierigkeiten, diese Erfahrung zu integrieren, die daraus entstehende Isolation zu überwinden. Und sie empfinden Heimweh nach dem erlebten Licht. Bei Erwachsenen ist die Suizidrate nach einer Nahtoderfahrung übrigens im generellen Vergleich niedriger.
Ich muss schon sagen: Das fühlt sich nicht an, als würde ich mit einem Schulmediziner reden.
Das höre ich häufig. Ich kenne auch nicht viele Ärzte, die empfänglich für dieses Thema sind. Ich sage diesbezüglich immer: Auch der Materialismus ist ein Glaube. Genau wie der Glaube an alles andere.