Buchbesprechung von Matthias Jäger
Vor Jahren sei Mäddel Fuchs auf Viehschauen aufgetaucht. Man habe sich gefragt, was dieser Mann mit den langen Haaren und den zwei Kameras vor dem Bauch hier wolle; dieser Mann, der so anders aussah, als man sich Besucher auf Viehschauplätzen vorstellte. Irgendwann habe er dazugehört. Er sei Teil der Appenzeller Viehschauplätze geworden und habe Brücken zwischen verschiedenen Welten gebaut.
Mit dieser Erinnerung des Landwirts Alfred Stricker an seine ersten Begegnungen mit Mäddel Fuchs würdigte der heutige Regierungsrat und Kulturdirektor Alfred Stricker an der Vernissage den Fotografen. Mäddel Fuchs ist aber nicht nur Fotograf, sondern zusammen mit Albert Tanner Herausgeber und Mitautor des neuen Buches.
Appenzeller Welten ist ein sehr persönliches Werk. Im umfangreichen Bildteil, dem Herzstück des Buches, nimmt uns Mäddel Fuchs mit auf seine eigene Reise in und durch verschiedene Appenzeller Welten. Diese begann mit dem 1985 veröffentlichten Bildband «Appenzellerland». Für diesen durchwanderte er rastlos Appenzeller Dörfer, Hügel und den Alpstein. Dabei begegnete er Menschen, Traditionen, Denkweisen und legte den Grundstein für sein umfassendes Netzwerk in viele Verästelungen der Appenzeller Welten hinein. Erste Bilder von Themen, die sein späteres Schaffen prägten sollten, finden sich bereits in dieser ersten Publikation; so der Hausierer, Viehschauen oder innovative Musiker wie die Appenzeller Space Schöttl. Im Lauf der Zeit folgten weitere Bücher über Viehschauen, den Hausierer Arthur Zünd, und über Holzzäune als prägendes, aber aussterbendes Element der Appenzeller Landschaftsgeometrie.
Mäddel Fuchs wurde nicht einfach zum Zuschauer und Dokumentalisten des Appenzellischen. Er näherte sich ihm über Jahre hinweg an, kreiste es ein, versuchte es zu erfassen. Dabei wurde er Teil von ihm und prägte es mit. Der Grossaufmarsch an der Vernissage, die Breite des Publikums auch, von Bauern über Büchermenschen, Kulturschaffende, Politiker, Künstler, Musiker, Interessierte und Freunde bis hin zu den beiden Kulturdirektoren von Ausser- und Innerrhoden, legt Zeugnis davon ab, wie sehr ihm das gelungen ist.
Im Bildteil begegnet man Bildern aus allen Phasen des 40-jährigen Schaffens von Mäddel Fuchs; starken Landschaften, traditionellen Tätigkeiten, besonderen Menschen, vielen Festen und Bräuchen.
Stark sind die im Bildteil eingestreuten Verse von Werner Lutz. Das ist ein in Wolfhalden geborener Lyriker aus Basel. Nachdem er im Juli 2016 verstarb und das fertig gestaltete Buch nicht mehr sah, bekommt es nun unfreiwillig den Charakter eines Nachrufs auf ihn.
Ein Universum auf 415,4 km²
Appenzeller Welten ist aber mehr als ein Fotobuch. Der Titel ist Programm. Suggerierte der Begriff Appenzellerland noch Fassbarkeit, Beschreibbarkeit, Einheitlichkeit, steht Appenzeller Welten für Vielfalt, Unterschiedlichkeit, Offenheit. Die beiden Appenzell sind nicht mehr als 415.4 km² eines grossen Universums. Aber auch nicht weniger. Menschen aus dem grossen Universum gestalteten das Kleine und Besondere mit, andere Menschen verliessen das Kleine und gestalteten das Grosse mit.
So versammelt der erste Teil des Buches Portraits von 41 Menschen, bekannten und unbekannten, ausgewanderten und zugewanderten, prominenten und randständigen. Inhaltlich ist die Rede von frühen Anwälten der Volkserziehung, vom Einsatz für Schwächere, von visionären Lebensreformern, von aussergewöhnlichen Frauen, von unbezähmbaren und randständigen Menschen, von Künstlern zwischen Brauchtum und Innovation, und von Pionieren und Gelehrten.
Bereits die Frage, was das gemeinsam Appenzellische an den Portraitierten sei, muss offen bleiben. Bei den einen ist es der Geburts- oder Bürgerort, andere kamen zum Arbeiten her, andere wuchsen hier auf, verbrachten ihr Arbeitsleben aber anderswo, andere kehrten zurück. Nur wenige entsprechen dem Cliché des bodenständigen, sesshaften, sennischen Appenzellers aus der Werbung. Nicht alle kamen freiwillig, nicht alle gingen freiwillig. Der bekannteste unter den unfreiwillig Zurückgeschafften (so würde das heute im Asyljargon heissen) ist Robert Walser.
Vielleicht sind die Biographien der beiden Herausgeber selber protypisch für ihren Zugang zum Thema. Der Historiker Albert Tanner wuchs in Teufen auf, wurde aber in Bern zu einer gewichtigen Stimme der neueren Schweizer Geschichte. Den umgekehrten Weg ging Mäddel Fuchs. Er wuchs in Zürich und im Tessin auf, kam als Kantonsschüler nach Trogen, kehrte später hierher zurück und wurde hier zum visuellen Chronisten.
Die Texte im dritten Teil decken ein breites Spektrum ab. Da finden sich ein Aufsatz zum Appenzeller Wortschatz, und ein Essay zu Volksreligiosität und kirchlichen Tradition von Stephan Guggenbühl, dem ehemaligen Pfarrer und Dekan in Appenzell. «Meine Schreibe hat Bleibe» ermöglicht ein Wiedersehen mit dadaistischer Lyrik von Tadasius Lapidar. Das ist ein Pseudonym des legendären ehemaligen Chefredaktors des Nebelspalters, Carl Böckli. Sein Portrait findet sich auch im 1. Teil. Eine Erzählung von Peter Weber gibt Einblicke in Nischen im Vorderland. Der Text von Albert Tanner, dem Mitherausgeber, beschäftigt sich mit dem wirtschaftlichen und sozialen Wandel. Er gibt Einblicke in die appenzellischen Besonderheiten der Entwicklung in Landwirtschaft und Industrie, insbesondere der Textilindustrie. Und schliesslich darf die Textilfamilie Zellweger aus Trogen nicht fehlen: Heidi Eisenhut, die Leiterin der Kantonsbibliothek in Trogen, versucht sich an einer Charakteristik.
Ein Text von Hans Hürlemann zur alten und neuen Appenzeller Musik beschliesst das Buch. Er zeigt auf, wie enorm lebendig und entwicklungsfähig die Appenzeller Musik geworden ist. Zur Illustration finden sich im hinteren Buchdeckel zwei CD mit Beispielen von alter und neuer Appenzeller Musik. So unterschiedliche Formationen wie die Original Streichmusik Alder, die Alderbuebe, die Geschwister Küng, die Appenzeller Space Schöttl, Noldi Alder Klangcombi, das Trio Anderscht, die Streichmusik Edelweiss und Tritonus mit ganz alter Volksmusik sind da vertreten.
Es war denn auch Hans Hürlemann, der als Moderator durch die Vernissage führte und den Übergang von eher wortlastigen Präsentationen zu Auftritten des Trio Anderscht, des Öhrli Chörli, eines Chlausenschuppel aus Waldstatt, und von Urs Klauser mit Tritonus einleitete. Die Landfrauen Teufen gaben dem Anlass die kulinarische Würze
Mäddel Fuchs, Albert Tanner
Appenzeller Welten
415,4 km² im Universum
350 Seiten
ca. 350 Abbildungen, 2 CD mit traditioneller und moderner Appenzeller Musik
Hier und Jetzt Verlag für Geschichte und Kultur
ISBN 978-3-03919-405-6
CHF 79.00
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