Nerina Keller
Sie sehen richtig: Das Gebäude hinter dem schwarzen Zaun ist das Weisse Haus in Washington D.C.. Davor posieren Nikolai Orgland und Gian Clavadetscher aus Teufen. Die beiden haben sich vor Kurzem dort getroffen. Verantwortlich dafür waren die Mütter. Diese stellten bei einem Bibliotheksbesuch in Teufen fest, dass die Söhne zur selben Zeit in der amerikanischen Hauptstadt lebten und arbeiteten. Hier erfahren Sie im Zeitraffer, was im Leben von Nikolai Orgland und Gian Clavadetscher von der frühen Kindheit bis zur Zusammenkunft in Washington D.C. passierte. Und welche Ziele sie verfolgen.
Geburt
Nikolai, 28 Jahre : Geboren bin ich in Morges VD, einem Vorort von Lausanne. Wir sind im Jahr 2000 nach Teufen gezogen. Davor haben wir in Oslo (Norwegen) sowie in Embrach (Kanton Zürich) und Morges (Kanton Waadt) gewohnt. Mein Vater ist Norweger und ist in Asker, einem Vorort von Oslo aufgewachsen. Meine Mutter ist in Uster am Greifensee im Kanton Zürich aufgewachsen. Meine Eltern haben sich in St. Gallen im Studium kennengelernt und gingen am Wochenende gerne ins Appenzellerland, um dem Nebel zu entkommen. Teufen war da der ideale Wohnort.
Gian, 26 Jahre: Ich bin in St. Gallen geboren und bin mit meiner Familie wenige Jahre später von der Stadt nach Niederteufen gezogen. Meine Eltern sind beide in St. Gallen aufgewachsen, wollten aber ihre Kinder lieber in einer ländlichen «Dorf-Umgebung» wie Teufen aufziehen, in einem Haus mit Garten. Den Kindergarten habe ich in Niederteufen besucht, fünf Gehminuten von zuhause.
Primarschule
Nikolai: Diese besuchte ich zuerst im Schulhaus Dorf. Das Fussballspielen in der Seitengasse sowie der alljährliche Bloch-Umzug sind mir besonders in Erinnerung geblieben. Dann ging ich im nagelneuen Schulhaus Landhaus zur Schule. Die für uns damals riesige Schulhausanlage mit versteckten Räumen lud zu wunderbaren Entdeckungstouren ein.
Gian: Ich habe die Primarschule in Niederteufen besucht. Mein Alltag war von «tschutte uf em Schueli» geprägt und nicht wirklich von der Liebe zur Schule an sich. Die Freundschaften, die während meiner Primarschulzeit (u.a. auf dem Fussballplatz) geschlossen wurden, haben mich die letzten 20 Jahre durchs Leben begleitet und geprägt – dafür bin ich extrem dankbar. Jede freie Minute wurde draussen verbracht. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, fühlt es sich an, als hätte ich keinen Tag Sorgen gehabt.
Kantonsschule
Nikolai: Rückblickend war das eine sehr bereichernde und idyllische Zeit. Eine Insel der Glückseligen, etwas abgeschieden im grünen Appenzellerland. Die soziale Kohärenz war stark und die Probleme der Welt schienen hier immer weit weg. Als Schüler gehörte ich wohl eher zum ambitionierteren Teil der Klasse. Besonders Französisch, Biologie und Geografie waren meine Lieblingsfächer. Gleichzeitig hatten wir nicht unbedingt den Eindruck, dass aus der Kanti Trogen weltbewegende Dinge kommen würden. Und nun haben wir doch mit Ex-Kantischüler Jaques Dubochet den Nobelpreis für Chemie bekommen! Mir fehlte die Nähe zu einer Stadt und damit zu einem grösseren kulturellen Angebot.
Gian: Mein täglicher Ansporn waren meine Freunde und nicht die Schule an sich. Für die Fächer, die mich interessierten, konnte ich mich sehr begeistern und engagieren: Geschichte, Deutsch, Wirtschaft und Recht, Sport. Dafür kümmerte ich mich nicht gross um diejenigen Fächer, von denen ich überzeugt war, dass ich sie nie wieder brauchen werde: Biologie, Chemie, Französisch. Letzteres zu vernachlässigen hat sich als fataler Fehler erwiesen. Da ich jetzt im internationalen Kontext arbeite, muss das dringend nachgeholt werden. Ich hatte definitiv mehr Flausen im Kopf, als ich fleissig und ambitioniert war.
Nach der Kanti habe ich zwei Zwischenjahre gemacht. In dieser Zeit absolvierte ich ein Praktikum, die RS, bin 8 Monate gereist und habe Freiwilligenarbeit geleistet in Afrika. Das hat mir sehr geholfen, Motivation für das Studium zu finden und ich habe mich dann für die HSG entschieden.
Studium und erste Berufserfahrung
Nikolai: Ich wollte immer schon etwas gegen den Klimawandel und den schleichenden Verlust von Biodiversität unternehmen. Darum habe ich Umweltingenieurwesen, spezialisiert auf Energiemanagement, an der EPFL in Lausanne (auch ETH Lausanne genannt) studiert. Nur dieses Studium hat mir erlaubt, gleichzeitig die wissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels und auch die technischen Lösungen zu verstehen. Zudem wollte ich meine Französischkenntnisse unbedingt verbessern und die Westschweiz besser kennenlernen.
Richtig gearbeitet, also mit AHV-pflichtigem Lohn, habe ich zuerst bei der Schweizerischen Vogelwarte in Sempach (Kanton Luzern). In der Sekundarschule war mir bereits klar, dass ich an die Kanti und später studieren wollte. Um eine Schnupperlehre trotzdem sinnvoll zu absolvieren, rief ich als begeisterter 14-jähriger Hobbyornithologe bei der Schweizerischen Vogelwarte an – das hat tatsächlich geklappt. Danach hatte ich fast jedes Jahr einen Sommerjob bei der Vogelwarte.
Gian: Ich habe an der HSG Jus studiert und im Nebenfach Ökonomie – ich wollte erfolgreich werden im Schweizer Finanzsektor. Während dem Studium war ich sehr ambitioniert und habe parallel dazu schon einige Arbeitserfahrungen gesammelt, bei einer Privatbank, einer Anwaltskanzlei und einer Steuerberatungsfirma. Mir wurde dann jedoch klar, dass mir diese Arbeit gar nicht entspricht und habe mich dann etwas radikal für ein Masterstudium in Völkerrecht an der Leiden Universität in den Niederlanden entschieden – definitiv die richtige Entscheidung. Das Studium beschäftigte sich mit verschiedenen Fragen des humanitären Völkerrechts, des Menschenrechts, des Internationalen Strafrechts, aber auch mit Staatsverträgen und internationaler Politik. Diese Welt ist das komplette Gegenteil der HSG und mir wurde klar, dass ich in diesem Bereich tätig sein möchte (NGO’s, Internationale Organisationen, Diplomatie, Internationales Recht etc.). Die Nähe zu Den Haag als «City of Peace and Justice» schuf ein inspirierendes Umfeld dafür. Insbesondere in Zeiten wie diesen (Ukraine-Krieg) ist die Arbeit in diesem Bereich von besonderer Wichtigkeit. Ich habe mich dann entschieden für 6 Monate auf der Schweizer Botschaft in D.C. zu arbeiten.
Washington D.C.
Nikolai: Hier in der amerikanischen Hauptstadt spürt man, dass Weltpolitik gemacht wird. Ich arbeite etwa 500 Meter neben dem weissen Haus und fahre mit dem Fahrrad auf meinem Arbeitsweg auch daran vorbei. Durch politische Demonstrationen vor Ort oder Fahrzeugkolonnen mit Staatspräsidenten bekommt man jeden Tag mit, was gerade weltpolitisch läuft. Die grosse Mehrheit der Menschen, welche in Washington D.C. leben, arbeiten direkt oder indirekt mit der amerikanischen Regierung zusammen und haben dementsprechend spannende Geschichten zu erzählen. Auch kommen unsere Bundesräte gerne nach Washington D.C. zu Besuch.
Viele Stereotype stimmen natürlich, so ist in Amerika (fast) alles grösser als in der Schweiz: Etwa die Autos oder Kühlschränke, aber auch die beruflichen Ambitionen der Menschen. Spannend ist jedoch, dass die Amerikaner und Amerikanerinnen einige kulturelle Gemeinsamkeiten mit den Menschen in der Schweiz haben. So sind die Amerikaner sehr höflich und rücksichtsvoll. Hingegen sind sie im Vergleich zu den Schweizer und Schweizerinnen deutlich gesprächiger und kontaktfreudiger. In Amerika ist es nicht unüblich, beim Supermarkt oder Spaziergang (besonders in Kombination mit einem Hund) in ein Gespräch mit fremden Menschen verwickelt zu werden. In der Schweiz sind wir zwar höflich, aber doch deutlich reservierter.
Gian: Die Schweizer Botschaft in D.C. ist einzigartig bezüglich ihrer Grösse und Wichtigkeit. Auch wenn wir dies in der Schweiz und Europa nicht immer wahrhaben möchten, hängt so ziemlich alles, was internationale Politik anbelangt, von Washington ab. Das Umfeld war extrem inspirierend und ich hatte viele spannende Konversationen mit Regierungsvertretern, Richtern, Politikern und Diplomaten der USA und aus Ländern der ganzen Welt. Hauptthemen für mich auf der Rechtsabteilung waren insbesondere das US-Sanktionsregime, die Schweiz als Mitglied des UNO-Sicherheitsrats und der Ukraine-Krieg. Ich habe zuvor für ein Austauschsemester in Minnesota gelebt, wo der Kontrast zur Schweiz um einiges grösser war. D.C. ist sehr international geprägt und im Vergleich zu anderen US-Städten ziemlich «Europa-ähnlich». Trotzdem ist es interessant, wie wir in Europa immer denken, dass die Amerikaner ungefähr gleich sind wie wir. Wir sind uns an die US-Popkultur, Musik, Filme und Firmen gewöhnt und es sieht auch alles etwa gleich aus. Doch die nordamerikanische Mentalität und Kultur ist genauso eigen wie diejenige eines asiatischen oder lateinamerikanischen Landes.
Treffen von Gian und Nikolai
Nikolai: Dass Gian und ich zur selben Zeit in Washington waren und wir uns dort getroffen haben, war tatsächlich ein aussergewöhnlicher Zufall. Wir beide kommen aus einem idyllischen Dorf im Appenzellerland. Dass wir uns dann beruflich zufällig in Washington D.C. in unmittelbarer Nähe vom Weissen Haus begegnen, ist doch sehr unwahrscheinlich. Wir kannten uns schon davor, da Gians ältere Schwester in der Sekundarschule mit mir in die gleiche Klasse ging. Und Gian war mit meinem jüngeren Bruder in der gleichen Klasse.
Gian: Ich habe Nikolai das erste Mal bei Glühwein auf der Schweizer Botschaft getroffen, wo Schweizer Vertreter der Weltbank und des IWF zu Besuch waren. Er hat mich einige Tage zuvor angeschrieben und wir haben herausgefunden, dass unsere Mütter sich in der Bibliothek über uns unterhalten und uns über den Aufenthalt des jeweils anderen in D.C. aufgeklärt haben. So haben wir uns dann einige Male auf einen Drink getroffen. Wir kannten einander, wie man sich im Dorf so kennt, aber haben nie wirklich miteinander gesprochen zuvor. Ich ging mit seinem jüngeren Bruder zur Schule, er mit meiner älteren Schwester. Er hat mir dann erzählt, dass er Teil des Mercator Kollegs ist und mir empfohlen, mich doch auch zu bewerben. Das alles war sehr spontan und ich habe mein Projekt und meine Bewerbung am letzten Tag der Deadline eingereicht. Nach meiner Teilnahme am Auswahl-Seminar in Bern im März, habe ich dann den positiven Bescheid bekommen.
Zukunft
Nikolai: Was die Zukunft bringt, weiss ich nicht. Derzeit bin ich sehr glücklich mit meiner aktuellen Lebenssituation. Das Einzige, was ich gerne ändern würde, wäre mehr Zeit in der Natur und weniger im Büro zu verbringen – am liebsten mit dem Beobachten von seltenen Vogelarten. Gerne würde ich auch an einer mehrwöchigen wissenschaftlichen Expedition zur Entdeckung von nicht beschriebenen Vogelarten teilnehmen. Etwa in den Regenwäldern vom Amazonas, Papua-Neuguinea oder Kongo. Seit meiner Jugend wollte ich schon immer meinen Beitrag dazu leisten, den Klimawandel und den Verlust an Biodiversität zu bekämpfen. Dies ist auch heute meine wichtigste Motivation im Leben. Gerne würde ich in der fernen Zukunft zurückblicken können darauf, dass ich einen Unterschied machen konnte im Kampf gegen den Klimawandel und den Verlust an Biodiversität. Beide Herausforderungen sind aber so gross, dass es schwierig ist, das Gefühl zu bekommen, dass man wirklich einen Einfluss auf das Weltgeschehen hat.
Gian: Ich bin zurzeit wieder zurück in Den Haag und schreibe meine Masterarbeit über Cyberoperationen in bewaffneten Konflikten, die kritische Infrastrukturen zum Ziel haben. Daneben arbeite ich im Forschungszentrum für Internationales Recht der Leiden Universität. Im Sommer werde ich mein Masterstudium abschliessen und mit dem Mercator Kolleg beginnen, welches 12 Monate dauert.
Mein Mercator-Projekt während diesen 12 Monaten befasst sich mit der globalen Strafjustiz und wie diese einen kooperativeren Ansatz verfolgen könnte, der sich vermehrt auf die Betroffenen fokussiert. Mich interessiert es, wie das Vertrauen des Globalen Südens in multilaterale Institutionen zur Bekämpfung von Straffreiheit internationaler Verbrecher gestärkt werden kann. Die sollte dann auch als mögliche Grundlage für Prävention dienen, um kritische Situationen wie z.B. diejenige in Myanmar frühzeitig zu erkennen und etwas dagegen unternehmen zu können. Dafür möchte ich ab Herbst erste Erfahrungen im Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag sammeln, bevor ich dann mit einer humanitären Organisation wie z.B. dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) oder auch einer lokalen, kleineren NGO vor Ort direkt mit Betroffenen von solchen Verbrechen zusammenarbeite. Ein Engagement bei einer unabhängigen Untersuchungskommission der UNO (z.B. für Syrien oder Myanmar) würde mich auch sehr interessieren. Das Mercator Kolleg unterstützt mich dabei mit Seminaren zur Arbeit in solch kritischen Kontexten, mit Sprachtraining und auch mit Kontakten und Verbindungen zu den jeweiligen Organisationen. Ich freue mich auch sehr auf den interdisziplinären Austausch mit den 24 weiteren Kollegiaten, die aus den verschiedensten Bereichen kommen (z.B. Umweltwissenschaften, Politikwissenschaften, Ökonomie, Meeresbiologie etc.) und an verschiedensten Projekten arbeiten wie z.B. steigende Meeresspiegel, Energiewende, Handelspolitik oder moderne Sklaverei in globalen Lieferketten.
Konkrete Zukunftspläne für danach habe ich noch nicht wirklich. Ich könnte mir gut vorstellen, als Völkerrechtsexperte für eine internationale Organisation einige Zeit «im Feld» zu arbeiten, wie z.B. die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit Europa (OSZE), das IKRK oder die UNO. Es gibt aber auch sehr interessante Arbeit bei NGO’s wie z.B. Human Rights Watch, Amnesty International oder REDRESS. Mit dem Ukraine-Krieg wurden Gräueltaten wieder mehr ins mediale Zentrum des Westens gerückt. Doch es gibt so viele Konflikte, die um einiges schlimmere Menschenrechtsverletzungen herbeiführen und ich möchte mich dafür einsetzen, dass auch diese nicht in Vergessenheit geraten. Denn wenn man diese nicht anerkennt und sich damit auseinandersetzt, wird die Hürde für eine Wiederholungstat in Zukunft immer tiefer.
Heimat
Nikolai: Derzeit komme ich jährlich für die Weihnachtszeit sowie im Hochsommer für einige Tage nach Teufen. Es gefällt mir derzeit sehr in Washington und ich könnte mir vorstellen, hier noch ein wenig zu bleiben. Ich vermisse jedoch auch Europa und werde wohl irgendwann zurückkehren. Ich fühle mich immer noch sehr mit Teufen verbunden und geniesse die Zeit, wenn ich hier bin. Nebst meiner Familie versuche ich, den Kontakt zu Kollegen aus der Schulzeit aufrechtzuerhalten und sie auch regelmässig zu treffen. Auch für lokale kulturelle, politische und wirtschaftliche Entwicklungen in Teufen interessiere ich mich weiterhin. So hat es mich sehr gefreut zu hören, dass es in Teufen nun einen Coworking-Space gibt! Solche Angebote machen Teufen für junge, berufstätige Menschen mit digitalen Jobs attraktiv.
Gian: Ich bin ein absolutes «Dorf-Kind» und sehr froh darüber, wo ich aufgewachsen bin. Insbesondere den vielen Expats, die ich in anderen Ländern kennenlerne, erzähle ich immer gern von meiner Verbundenheit zu meinem Heimatdorf. Teufen ist für mich etwas ganz spezielles und es gibt keinen vergleichbaren Ort. Ich war immer sehr stark im Dorf involviert, bin im FC und TVT mit dabei (jetzt nur noch passiv) und Silvester im Dorf ist für mich das Jahreshighlight, das ich auf keinen Fall verpassen möchte. Ich bin noch immer in engem Kontakt mit Freunden, die ich teils seit dem Kindergarten habe und werde auch rege besucht im Ausland, was mir enorm viel bedeutet. Von den Niederlanden ist es auch gar nicht so weit, die Zugreise dauert acht Stunden. Da kann man gut auch einmal für ein Openair, ein Geburtstagsfest oder eine Hochzeit in die Schweiz kommen. Trotzdem merke ich, dass ich nicht mehr ganz so «nahe am Puls» bin. Aber wenn ich dann wieder in Teufen bin und meiner Mutter anbiete in die Migros und im Beck einkaufen zu gehen, damit ich einige bekannte Gesichter sehe, fühlt es sich an, als wäre ich nie weg gewesen.