Sollen die Grenzen zwischen den Ortsteilen Teufen, Tobel, Niederteufen und Lustmühle markiert werden z.B. mit Tafeln oder Grenzsteinen? Machen Grenzen überhaupt Sinn? Darüber diskutierte am Sonntagnachmittag Hanspeter Spörri mit dem Trogener Künstler H.R. Fricker an einer Veranstaltung der Kulturkommission im Zeughaus.
Rund ein Dutzend Zuhörerinnen und Zuhörer verfolgten an diesem trüben Sonntagnachmittag die anregende Plauderei zum Thema Grenzen. Sie erhielten Gedanken und auch ein paar Ideen auf die eingangs gestellten Fragen. Vor allem aber lernten sie die Denkweise und Eigenart des Trogener Künstlers kennen.
Auslöser für die Veranstaltung war eine Anfrage an die Kulturkommission – wohl aufgrund des Kapitels Ortsnamen in der Teufner Ortsgeschichte – , ob man nicht die Grenzen zwischen den Gemeindeteilen von Teufen markieren sollte, um genau zu wissen, wo zum Beispiel Niederteufen aufhört und Teufen anfängt, oder der Gemeindeteil Tobel, sagte Roland Stieger in der Begrüssung.
Die Kulturkommission, damals noch unter Leitung von Martin Ruff, griff das Thema auf. Einfach weitere Tafeln aufzustellen, diese Idee wurde rasch verworfen, das Thema war aber gesetzt. So kam man schliesslich auf H.R. Fricker, der mit seinen Schildern oder Markierungen im Boden oft unscheinbaren Orten einen Namen und damit eine Identität gibt.
Standorte aufwerten
Er habe sich innerlich gesträubt gegen das Thema, als ihn die Anfrage erreichte, bekannte Fricker, sei doch sein Ansatz eher, Grenzen zu überwinden. Seine erste spontane Idee war, die Schulkinder von Teufen und Niederteufen mit bunten Ballonen auszustatten und an die Grenzen zu stellen, um diese so zu markieren – das sei aber nicht wirklich ernst gemeint gewesen. Wichtiger als Grenzen findet er, sich des eigenen Standorts zu vergewissern, sich zu verorten. An einer Wanderung zusammen mit der Kulturkommission auf den Anhöhen von Teufen entwickelte er die Idee, Standorte aufzuwerten, etwas Besonderes zu machen, um so miteinander ins Gespräch zu kommen.
Konkret schlägt er vor, dass jeder Gemeindeteil abwechslungsweise die Bewohner der anderen Teile in einem bestimmten Turnus zu einem Fest einlädt. Um den Anlässen ein Gepräge zu geben, könnten sich die einzelnen Ortsteile ein Thema herauspicken, zum Beispiel den Schriftsteller Robert Walser, die Baumeister Grubenmann oder die einst blühende Textilindustrie. „Damit könnte man einander gegenseitig über die Grenzen locken und miteinander ins Gespräch kommen. Und vielleicht etwas Stolz entwickeln auf den eigenen Wohnort.“
Grenzenlose Kommunikation
Wichtiger als geografische oder politische Grenzen sind dem Künstler aber die Menschen. Aufeinander zugehen, miteinander ins Gespräch kommen, in Beziehung kommen, das war auch die Idee hinter der Mail-Art, als er in den 90er-Jahren damit begann, in der ganzen Welt Leute anzuschreiben – eine Art Vorläufer von Facebook. So entstand ein reger Austausch, der manchmal sogar zu Besuchen und Gegenbesuchen führte.
Als „historisch“ bezeichnete Moderator Hanspeter Spörri Frickers Einsatz für das Frauenstimmrecht, als er die Figur der „Ida Schläpfer“ entwickelte. Es sei darum gegangen, dem Machismo der Ausserrhoder Männer etwas entgegen zu setzen, ins Lächerliche zu ziehen und so die verhärteten Fronten aufzuweichen, erzählte H.R Fricker. Aufgabe des Künstlers sollte es ja sein, den Paradigmenwechsel zu beschleunigen, indem man etwas beim Namen nenne.
Nicht ein Künstler im gängigen Sinne
Angefangen hatte es mit Fotokopien, als der Rank Xerox aufkam. Er habe angefangen, Kleinplakate aufzuhängen, um den Raum zu markieren und zu zeigen, „der Raum gehört uns, er ist öffentlich und nicht nur dazu da, den Blick auf das Angebot im nächsten Schaufenster zu richten.“ Als Künstler habe er immer Formen gesucht, ein Thema in die Öffentlichkeit zu bringen, und dies nicht in abgeschlossenen Kontexten wie Galerien oder Museen, sondern „dort, wo ich ganz frei bin und selber entscheiden kann.“ Denn sich zu manifestieren, sei quasi ein Menschenrecht.
Dass dies Kunst sei, sei ihm selber anfänglich erst gar nicht bewusst gewesen. Denn all die Talente, die es damals brauchte, um als Künstler zu gelten, habe er alle nicht; er könne weder malen noch zeichnen oder was sonst normalerweise als Kunst gelte. Er habe jedoch das Glück gehabt, in eine Zeit hinein zu wachsen, wo die Fotokopie ganz neue Möglichkeiten eröffnete, und sei so in die Netzwerke der Mail-Art hineingekommen, wo man sich gegenseitig Briefe per Post schickte und so die Grenzen überwand und hinterfragte.
Identitätsfindung
Die Orte der List oder der Visionen, die er danach entwickelte, hätten auch mit Grenzen zu tun. Oder „Ort der Angst“: Solche Schilder lösten ganz andere Fragen aus als sich zu fragen, bin ich ein Schweizer oder Appenzeller, sondern zwängen dazu, sich immer wieder neu zu positionieren, wer bin ich, was mache ich, was löst das emotional in mir aus.
Teufen ist nicht die erste Gemeinde, die ihn für ein Projekt anfragt. So wurde er als Gastkurator ins Lugnez eingeladen. Sein Vorschlag: Die Bevölkerung fragen, was für Steine sie bei ihren Wanderungen nach Hause nehmen, und sie zu bitten, diese für eine Ausstellung auszuleihen. Nun sei er gespannt, was da zusammenkomme. In Olten war eine ähnliche Idee erfolgreich. Für die Steine habe es zwei 12 Meter lange Bahnen gebraucht, und viele Leute, die sonst nie in ein Museum gingen, weil sie sich dorthin gar nicht getrauen würden, seien gekommen, um ihren Stein zu sehen, weil sie eine Beziehung zu ihm hatten.
Für eine andere Gemeinde entwickelte er die Idee, am Gemeindehaus eine elektronische Laufschrift anzubringen. In 80 Sprachen – so viele wie dort gesprochen werden – hätten die Leute am Morgen begrüsst werden sollen. Damit sollte sichtbar gemacht werden, wie viele verschiedene Menschen in einer Gemeinde zu Hause sind, und Verständnis für einander geweckt werden. Jene Gemeinde wollte das nicht: „Goots no!“, habe es geheissen. Warum also nicht in Teufen? „Tagsüber könnte man Informationen über die Gemeinde und die Anlässe laufen lassen, am Abend beispielweise Texte von Robert Walser oder von eingeladenen Schriftstellern“, so H.R Fricker.
Brücken bauen
In Anspielung auf die Brückenmodelle der Grubenmann regte Martin Ruff zum Schluss an, Brücken zu bauen, nicht nur über die Grenzen zwischen den Orten, sondern auch zwischen den sozialen Grenzen, um so die Zusammenarbeit und den Zusammenhalt zu stärken.
Auch H.R. Fricker betonte mehrmals, im Zentrum seiner Arbeit stünden nicht die Grenzen oder Orte: „Meine Beziehung geht zu Leuten, nicht zu Orten.“
„Das ist das Allerwichtigste: in Beziehung bleiben“, zog Moderator Hanspeter Spörri das Fazit dieses Nachmittagsgesprächs. „Und darum haben wir in Teufen gefunden, wir stellen keine Grenzsteine auf, sondern versuchen, andere Modelle herauszufinden“, doppelte H.R. Fricker nach. Mit dieser Aufgabe wurden die Besucherinnen und Besucher in den immer noch trüben Sonntagnachmittag entlassen.
H.R. Fricker (Wikipedia)
H.R. Fricker (* 1947 in Zürich als Hans Ruedi Fricker) ist ein Schweizer Konzeptkünstler. Ab 1973 absolvierte H.R. Fricker, bewusst als Alternative zu einem Kunststudium, eine Ausbildung als Erzieher an der Heimerzieherschule in Rorschach. Parallel dazu besuchte er 1973/1974 Kurse an der F+F Schule für Kunst und Mediendesign in Zürich.
Nach anfänglichen Fotoarbeiten und Schriftspuren in der Winterlandschaft von Trogen nutzte H.R. Fricker Ende der 70er-Jahre die Fotokopie für seine Kunstaktionen im öffentlichen Raum. Er markierte seine Wege durch St. Gallen mit Fotokopien seines Selbstporträts. Daraufhin entstand eine Kleinplakatszene in den Strassen von St. Gallen. 1980 proklamierte er mittels Plakaten die „fiktive Kunsthalle St.Gallen“.
1981 gründete H.R. Fricker das „Büro für künstlerische Umtriebe auf dem Land“ in Trogen, Appenzell Ausserrhoden, und wurde aktiv in der weltweiten Mail Art-Szene. Er rief 1984 zum „Tourism“, zum sich gegenseitig besuchen, auf und initiierte 1986 mit Günther Ruch und 1992 mit Peter W. Kaufmann den 1. und 2. weltweiten dezentralen Mail-Art- und Networker-Kongress. 1992 kennzeichnete er sein Wohnhaus in Trogen mit dem Schild „Networker Hotel“.
Seit den 1990er-Jahren arbeitet H.R. Fricker vermehrt mit Schildern und beschildert oder bezeichnet Orte mit Formeln wie ORT DER LIST, ORT DER GEWALT, ORT DER IRONIE. 2007 entstand seine Homepage „placeofplaces.com“. Er gründete eigene Museen wie das „Alpstein Museum“, das vor allem aus Hausbibliotheken in Berggasthäusern besteht, und das Museum für Lebensgeschichten. 2005 rief er den „Trogener Kunstpreis für Menschen mit Behinderung“ ins Leben. Im Jahr 2012 schuf er das Geometer-Denkmal in Teufen als symbolischen Mittelpunkt des Kantons Appenzell Ausserrhoden.