Die Krankheit, über die man nicht gerne spricht

07.11.2015 | Erich Gmünder
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Über 130 Teilnehmende besuchten an diesem goldenen Herbsttag den 3. Gemeindetag im Zeughaussaal. Fotos: Erich Gmünder

„Leidet jemand unter Ihnen unter Demenz?“ – Niemand steht auf…  – „Schade, sehen Sie, das wäre jetzt ein gutes Zeichen für die Integration dieser Krankheit gewesen, wenn sich jemand unter dem Publikum geoutet hätte“, sagte Brigitta Martenssson, Geschäftsleiterin der Schweizerischen Alzheimervereinigung am Gemeindetag im Zeughaus.

Denn: Demenz ist ähnlich wie Alkoholismus ein Tabu, über das man nicht spricht und entsprechend (zu) spät Hilfe holt. Warum das so ist und was auch in Teufen dagegen unternommen wird, darum drehte sich der 3. Gemeindetag des Forums Palliative Care Teufen vom 7. November 2015.

Tabuthema Demenz

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v.l.: David Kradolfer, Rosemary Högger und Toni Lehner im Gespräch mit Hanspeter Spörri.

Was die Erkrankung für den Betroffenen und die nächsten Angehörigen bedeutet, darüber sprach Moderator Hanspeter Spörri mit drei Angehörigen. Rosemary Högger schilderte, wie sie und ihr Mann von der Diagnose überrascht wurden. Sie würde die Zeit, wo er noch nicht im Dunkel verschwunden ist, im Rückblick noch intensiver nutzen, um die Lebensqualität möglichst lange aufrecht zu erhalten.

David Kradolfer wurde als junger Mann mit der Krankheit seines Vaters konfrontiert. Aufgrund der Erfahrungen gründete er nach dem Tod des Vaters in Zusammenarbeit mit der Alzheimervereinigung die Angehörigengruppe jung an Demenz Erkrankter. Im Rückblick kann er der Situation auch Positives abgewinnen, habe der Vater doch spät noch gelernt, Gefühle zuzulassen und sei für ihn ein „cooler Vater“ geworden, nachdem er früher alles in den Beruf investiert und keine Beziehung zu den Kindern aufgebaut habe.

Für Toni Lehner, pensionierter Lehrer, und seine von Demenz betroffene Frau, eine katholische Seelsorgerin, sei die Diagnose ein „Schock“ gewesen. Als sie sich geoutet hätten, „Wir sind dement“, da hätten viele Freunde und Bekannte auch erleichtert reagiert. Sie seien vorher als „komisches Paar“ wahrgenommen worden, weil sie sich der Krankheit geschämt und sozial isoliert hätten. Nun seien die alten Netzwerke wieder zum Tragen gekommen, was für seine Frau, aber auch für ihn eine grosse Entlastung gewesen sei.

Bis zur Erschöpfung

Die drei Angehörigen beschrieben aber auch die schwierige Phase bis zur unvermeidlichen Heimeinweisung. Toni Lehner stand nach einem Jahr intensiver Betreuung kurz vor einer Erschöpfungsdepression, als sein Hausarzt einschritt.

Auch die Familie Kradolfer erlebte dramatische Wochen, weil sich die Krankheit auch in Aggressionen ausdrückte. Wichtig sei, so seine Lehre daraus, alles frühzeitig zu regeln, so lange der Betroffene noch bei klarem Geist sei. Sein Vater sei verbeiständet worden, weil er das Finanzielle nicht geregelt hatte,  und so sei viel Energie, die sie anderweitig gebraucht hätten, in den Kampf mit den Behörden verpufft.

Existenzielle Nöte

Überhaupt: Die Krankheit Demenz bringt viele Familien in existenzielle Nötige. Familie Högger musste den Gürtel enger schnallen, und die Gattin sich mit 60 Jahren noch um Arbeit bemühen, um die hohen Heimkosten zu finanzieren, welche trotz Renten und Krankenkassenzuschüssen übrig blieben. Der Ehemann war vorher Selbständigerwerbender und wenig abgesichert. Monatlich müsse sie acht Bewerbungen einreichen, mit null Aussicht auf Erfolg.

Die drei Angehörigen stellten übereinstimmen fest, dass hier ein sozialpolitisches Manko herrsche, das von der Politik noch nicht richtig erkannt werde. Auch die anwesenden Fachleute zeigten sich anschliessend erschüttert über das Ausmass der materiellen Not, das durch die Krankheit ausgelöst werden kann.

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„Hinschauen statt wegschauen“

In Fachreferaten schilderten Karin Kaspers-Elekes, Präsidentin palliative Ostschweiz und Brigitta Martensson von der Schweizerischen Alzheimerbewegung die Bemühungen, den Wissensstand und das Verständnis für die tabuisierte Krankheit zu erhöhen. Dabei könnten eine frühzeitige Erkennung und Unterstützung die Lebensqualität der betroffenen Patienten und Angehörigen verbessern. Die Definition von Palliative Care müsse deshalb zwingend über den Tod hinaus erweitert werden, um auch die betroffenen Angehörigen miteinzubeziehen.

40 bis 60 Prozent der Bewohner von Alters- und Pflegeheimen seien heute betroffen, mit steigender Tendenz, und in privaten Wohnsituationen gebe es eine Dunkelziffer von geschätzten 50 Prozent. Allein in Ausserrhoden lebten gemäss Hochrechnungen über 800 Patienten. Die Krankheit sei wegen dem drohenden Verlust von Kognition und Kontrolle mit grossen Ängsten besetzt, weshalb die Wahrheit oft so lange wie möglich verdrängt werde. „Hinschauen statt Wegschauen!“, laute deshalb die Devise. Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen dürfte nicht länger ausgegrenzt werden. „Menschen mit Demenz sind ansprechbar – sie sind Menschen wie du und ich“, sagte dazu Brigitta Martensson.

Fehlendes Entlastungsangebot in Teufen

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In einer abschliessenden Podiumsrunde stellten sich Fachleute aus der Region den Fragen aus dem Publikum. Deutlich wurde dabei, dass in Teufen ein Entlastungsangebot wie z.B. eine Tagesstätte in Teufen fehlt. Eine solche Einrichtung würde es beispielsweise Angehörigen erlauben, einmal ein Wochenende oder ein paar Tage zu verreisen.

Ideen seien schon vorhanden, aber nicht finanzierbar, sagten Roman John, Geschäftsleiter der Spitex Rotbachtal. Diese Aufgaben dürften nicht auf die Gemeinden abgeschoben werden, Paul U. Egger, Heimleiter Haus Unteres Gremm nach. Dieses Votum rief Gesundheitsdirektor, Landammann  Matthias Weishaupt auf den Plan. Es gehe nicht um Abschieben, sondern um eine klare Aufgabenteilung zwischen Kanton und Gemeinden.

Roman John sowie Jacqueline Gavrani von der Informations- und Beratungsstelle für Altersfragen in Teufen appellierten, sich frühzeitig Beratung und Hilfe zu holen. So helfe zum Beispiel eine zeitweise Entlastung durch die Spitex, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, was spätere „Notfallübungen“ vermeide.

Positive Erfahrungen im stationären Bereich

Gaby Oezer, Leiterin Betreuung und Pflege, berichtete über die positiven Erfahrungen mit den drei Wohngruppen für Demenzkranke im Haus Unteres Gremm.

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Landammann Matthias Weishaupt (r.) und Gemeindepräsident Walter Grob.

Teufen habe sich mit der Integration von Demenzkranken schon 2008 im Zusammenhang mit der Eröffnung des HUG intensiv auseinandergesetzt. Vor allem im privaten Bereich müssten die Bestrebungen aber forciert werden, und zwar von der ganzen Gesellschaft, sagte Gemeindepräsident Walter Grob, der in seinem Schlusswort die Bemühungen von Palliative Care Teufen würdigte, welcher von der Gemeinde mit einem jährlichen Sockelbeitrag unterstützt wird.

Eröffnet worden war der Anlass durch Peter Winzeler, Präsident des Forums Palliative Care Teufen, und Landammann Matthias Weishaupt. Nik Hagmann sorgte mit dem Hackbrett für musikalische Pausen, und die Schulklasse 6a vom Landhaus für gesunde Verpflegung. An verschiedenen Ständen konnte man sich mit Unterlagen zum Thema eindecken.

Erich Gmünder

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Palliative Care, wenn es um die letzten Dinge geht. An verschiedenen Ständen gab es Literatur und Informationsmaterial.
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Sie waren für die Herstellung und Präsentation der Zwischenverpflegung verantwortlich: Schülerinnen und Schüler der Klasse 6a vom Landhaus.

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