



Sepp Zurmühle
Am 8. Mai 1945 wurde der 2. Weltkrieg als beendet erklärt. Margarete Stern (-Palloks) hat die Ängste dieser Zeit als junges Mädchen hautnah miterlebt. Drei Tage vor dem 75. Jahrestag feiert die immer noch quirlige und aktive Rentnerin ihren 92. Geburtstag.
Auf die Frage am Telefon, was sie in diesen Zeiten von Corona denn so mache, antwortet Margarete Stern (genannt Margret), wie aus der Pistole geschossen: «Ich bin am Fensterputzen. Das mache ich nicht gerne. Aber ein, zwei Fenster pro Tag, das geht… Ich muss auch den Rasen auf der ebenen Fläche ums Haus mähen, denn wenn er zu hoch wird, ist es mir zu streng… Sowieso bleibe ich jetzt v.a. zuhause, man muss ja. Es ist nicht einfach, ich vermisse den Kontakt zu anderen Menschen schon…»
Vielen von uns ist Margret Stern bekannt oder zumindest aufgefallen, wie sie ungeachtet ihres Alters und bei jedem Wetter, fast täglich, aufrechten und schnellen Schrittes von Niederteufen nach Teufen marschiert, ihre Einkäufe tätigt, Bekannte und Freunde oder ehemalige Nachbarn besucht.
Ostpreussen, Landkreis Elchniederung
Aufgewachsen ist die kleine Margarete weit im Norden, im westlichsten Gebiet des heutigen Russlands (Oblast Kaliningrad), nahe der Grenze zu Litauen, zwischen Tilsit und dem Fluss Memel. In dieser, unter dem Meeresspiegel liegenden, komplett flachen Moorgegend und damaligen Kornkammer Deutschlands mit den dunkeln, überdurchschnittlich fruchtbaren Böden, betrieb die Familie Palloks einen der auseinanderliegenden Bauernhöfe. Sie hatten mindestens 25 Kühe, viele Jungtiere, zahlreiche Pferde und weite Ackerflächen.
Margarete kam am 5. Mai 1928 zur Welt. Danach folgten ihre drei Geschwister Martin (1929), Hildegard (1931) und Helga (1933). «Es war eine relativ unbeschwerte und glückliche Kindheit. Sogar der Krieg schien weit weg zu sein… Schulunterricht hatten wir jedoch immer weniger. Alle Männer wurden eingezogen, nur junge Lehrerinnen gaben uns noch Unterricht…».
Flucht vor russischen Truppen
Plötzlich, im Oktober 1944, mussten wir von einer Stunde auf die andere mit Pferd und Wagen in Richtung Süd-Westen aufbrechen. Der Vater wurde gezwungen zurückzubleiben (als Kanonenfutter…). Unsere Mutter mit uns vier Geschwistern und unsere Tante mit ihren beiden Kindern flüchteten gemeinsam. Meine Mutter packte hastig ein paar Fotos, Kartenmaterial, die Ausweise und etwas Nahrungsmittel ein. Ausser den von Mama liebevoll genähten Kleidern, welche wir anhatten, blieb alles zurück. Der Vater vergrub einige Habseligkeiten. Unsere Flucht führte zunächst nach Labiau (heutiges Polessk), weiter Richtung Königsberg (Kaliningrad). Dort fanden wir eine vorläufige Bleibe.
Die Bomben in Dresden
«Völlig überraschend tauchte unser Vater an Weihnachten 1944 für ein paar Tage auf. Wie er uns gefunden hat, weiss ich nicht mehr. ‘Ihr dürft hier nicht bleiben, ihr müsst euch unbedingt für den letzten Flüchtlingstransport anmelden…’ So ging es Anfang Januar 1945 per Bahnwagen Richtung Ungewissheit. Angekommen sind wir in einem Vorort-Quartier von Dresden. Dort wurden wir auf verschiedene Gast-Familien verteilt.
Bei Bombenalarmen durften wir uns jeweils alle im selben Keller bei unserer Mutter treffen. Der Keller war im Übrigen auch nicht wirklich sicher. Am Abend des 13. Februar 1945 wurde die Stadt Dresden dann von alliierten Bomben praktisch dem Erdboden gleich gemacht, mit tausenden von Toten. Wie ein Wunder haben wir alle überlebt. Doch niemand mehr wollte fortan uns Flüchtlinge in Dresden dulden. Wir mussten weiter…».
Per Bahn nach Bayern
«Anfang März 1945 waren wir eine Woche eingepfercht in Bahnwagen unterwegs, nur Frauen, Kinder und alte Männer. Immer wieder gab es Stopps. Die sanitären Verhältnisse waren fürchterlich. Auch wegen den Dampfloks wollte man offensichtlich möglichst unbemerkt fahren, v.a. in der Dämmerung und bei Bewölkung… Wir mussten nicht hungern, hatten aber oft Hunger. Irgendwer gab uns dann wieder zu essen.
Gestrandet sind wir schliesslich auf verschiedenen Höfen im kleinen Dorf Langenkreith (Hemau), westlich von Regensburg. Ich war mit meiner Schwester Hildegard. Helga durfte mit unserer Mutter bleiben. Martin war auf einem anderen Hof, ebenso unsere Tante mit unseren Cousinen. Essen durften wir oft zusammen, da meine Mutter für alle kochte. Das war ein grosses Glück.»
Neue, andere Welt
«Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Hügel und sogar Berge in der Ferne, auch dass in Bayern Kühe und Ochsen die Wagen zogen und man auf den Feldern Steine auflesen musste, war für mich neu. Am 5. Mai 1945 wurde ich 17 Jahre alt. Am 8. Mai ist das Kriegsende ausgerufen worden. Nie mehr werde ich vergessen, wie der Bürgermeister im Dorf – ein alter, kleiner Mann – mit steifer Haltung und starrer Miene auf der Rückbank eines amerikanischen Jeeps, gefahren von zwei Schwarzen (hatte ich ebenfalls noch nie zuvor gesehen), einer davon hinter dem Maschinengewehr in Schussbereitschaft, ganz langsam durchs Dorf fuhren.
Danach arbeiteten wir weiter auf den Höfen, die uns Unterkunft boten. Als Protestantin durfte ich später in eine Diakonissenanstalt (evangelische Schwesterngemeinschaft) und bekam dort eine Grundausbildung als Köchin. Dies mitten im streng katholischen Bayern, wo die Menschen uns zwar mochten, doch ebenfalls echtes Mitleid mit uns Andersgläubigen hatten und überzeugt waren, dass wir leider deswegen in die Hölle kommen würden.
Für uns kam es anders. Von unserem Vater hatten wir seit Januar 1945 nichts mehr gehört. Umso unglaublicher für uns alle war, dass er uns 1948 in Bayern wiederfand. Schon im 1. Weltkrieg musste er als 18-Jähriger an die Ostfront und wurde in Sibirien gefangen gehalten. Dieses Mal verbrachte er die Kriegsgefangenschaft in Russisch-Karelien (Nähe Finnland). Via Dresden und durch Verwandte in Berlin konnte er die Spuren bis zu uns nach Bayern aufnehmen. Später hatte er das Glück, einen grossen Bauernhof in Rheinlandpfalz aufbauen zu können. Dort lebt seither ein Teil meiner Familie».
Seit 1948 in der Schweiz
«Der internationale Verein ‘Freundinnen junger Mädchen’ konnte Haushaltstellen in Schweden und in der Schweiz vermitteln. Nach Schweden wollte ich auf keinen Fall. So fand ich mit 20ig eine Stelle als Haushalthilfe bei einer Zahnarztfamilie in St. Gallen Rotmonten. Dort wurde ich wohlwollend aufgenommen und auch gefördert. Schon bald durfte ich auch in der Zahnarztpraxis mitarbeiten und später sogar eine Art Lehre (ohne Schulunterricht) machen, jedoch im Geheimen, denn nur Haushaltarbeiten waren erlaubt. Im Notfall (der nie eingetroffen ist) hätte ich mich als Auslandschweizerin ausgeben müssen. Viele Schweizer Familien lebten lange vor dem Krieg in meiner alten Heimat dem Kreis Elchniederung. Viele waren entweder Melker oder hatten Schweinemastbetriebe, Molkereien oder Käsereien…, daher auch der Zusammenhang zum Tilsiter.
Schritt für Schritt wurde ich heimisch in der Schweiz. Erlernte später auch das Schweizerdeutsch, wurde Mitglied in einem Schwimmclub (konnte aber nicht schwimmen). Durch einige Zufälle lernte ich meinen späteren Ehemann, Hermann Stern, kennen. Er war Wettkampfschwimmer, Wasserballer und trainierte die Damenriege (bei der ich nicht Mitglied war). Er war Coiffeurmeister im Betrieb seines Vaters an der Rorschacherstrasse, bevor er diesen selbst übernahm. 1954 heirateten wir und ab 1955 arbeitete ich mit ihm im Coiffeursalon. Unsere Söhne Martin und Roland kamen 1956 und 1958 zur Welt. 1960 zogen wir in unser neu gebautes Haus in Niederteufen, in dem ich nun seit 60 Jahren wohne. Leider ist mein Mann im Dezember 2009, nach einem Sturz, innerhalb einer Woche unerwartet verstorben.
Trotz allem schaue ich auf ein glückliches und aktives Leben zurück. Ich schätze meine eigene Familie (unsere Sippe, wie ich sie nenne) in der wir – allen geographischen Distanzen zum Trotz – über all die Jahre, innige und rege Beziehungen pflegen. 1992 organisierten wir gar eine gemeinsame Reise zurück in unsere alte Heimat. Vom damals grossen Bauernhof war kein Stein mehr übrig, nur eine mit Büschen bewachsene Wiese fanden wir vor… Alles ist letztlich vergänglich.
Auch die Corona-Zeit wird vorübergehen. Sie ist im Moment nicht ganz einfach auszuhalten, weil viele persönliche Kontakte nicht mehr möglich sind. Doch schon heute freue ich mich auf die Zeit danach, z.B. der wöchentliche Samstagshöck im Kaffee Koller… Ich schätze die Menschen aller Generationen im Quartier und im Dorf. Ich fühle mich hier zuhause. Für mich stimmt alles.»



